Interview

"Es ist ein wichtiger Schritt, lügen zu lernen!"

Sagt der Entwicklungspsychologe Professor Herbert Scheithauer (FU Berlin) im Gespräch mit scout*

Herr Professor Scheithauer, ab wann können Kinder zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden?

Man weiß, dass Kinder ungefähr ab einem Alter von dreieinhalb bis vier Jahren in der Lage sind, Lügen als solche zu erkennen. Das ist dann noch auf ganz konkrete, reale Situationen bezogen: wenn zum Beispiel die Eltern eine sozial erwünschte Notlüge äußern und das Kind das durchschaut. Im selben Alter können Kinder auch schon selbst lügen. Manche Eltern sind dann ganz geschockt: Mein Kind hat mich gerade angelogen! Sie verstehen nicht, dass das Kind gerade einen entwicklungspsychologisch wichtigen Schritt gemacht hat. In diesem Alter können wir aber noch längst nicht in einen Diskurs mit Kindern treten, ob beispielsweise Nachrichten wirklich der Wahrheit entsprechen.

Und das mit dem selber Lügen klappt dann auf Anhieb?

Nein, nicht auf Anhieb. Dafür muss man ja auch Mimik und Gestik im Griff haben. Bei den ersten Lügen sehen wir Erwachsenen: Das Kind läuft rot an, guckt auf den Boden, ist also noch sehr ungeschickt. Geschickt lügen, das können Kinder erst im Grundschulalter. Die Fähigkeit zu lügen geht aber noch einher mit einer Vielzahl anderer Entwicklungsschritte: Das Kind muss zu „selbstbezogenen Emotionen“ wie Schuld oder Scham fähig sein. Anfangs ist das auf sehr einfache Aspekte bezogen: Man fordert das Kind auf, etwas zu zeigen, was es kann – vielleicht ein Lied zu singen –, und es reagiert beschämt. Die etwas komplexeren, auch gesellschaftlich relevanteren Aspekte entwickeln sich erst später, bis zum Alter von neun Jahren und sogar noch darüber hinaus. Hier geht es darum, dass ein Kind bewusst Schuld empfindet, wenn es Regeln und Normen verletzt, also zum Beispiel die Lieblings-Schallplatte des Vaters zerkratzt hat. Das geht dann einher mit bestimmten anderen Fähigkeiten, insbesondere damit, sich in andere Personen gedanklich und emotional hineinzuversetzen.

Sechsjährige können schon Absichten erkennen, die sich hinter falschen Aussagen verstecken.

Professor Herbert Scheithauer

Lügen erkennen Kinder also zunächst im engeren sozialen Umfeld. Und dann?

Dann wird es komplexer: Lügen oder Fake News in Medien erkennen zu können, das ist noch einmal ein ganz anderes Themenfeld! Sechsjährige können sich in andere hineinversetzen, auch schon Absichten erkennen, die sich hinter Lügen oder „Falschaussagen“ verstecken. Was Medien damit unter Umständen bewirken wollen, verstehe sie aber noch nicht. Denn sie verfügen in diesem Alter noch nicht über Instrumente zur Interpretation von Medieninhalten – also nicht über die dafür nötige Form von Medienkompetenz. Ein Beispiel: Kinder verstehen im frühen Grundschulalter noch nicht, dass das Verhalten oder die Aussagen eines Schauspielers nicht seinen tatsächlichen Charakter repräsentieren müssen. Hier muss also in der kognitiven Entwicklung noch mehr passieren, hier sind Fähigkeiten des abstrakten Denkens und Reflektierens, des logischen Schlussfolgerns gefragt, die erst später entwickelt werden. Den Unterschied zwischen einer erfundenen Geschichte und einer Nachricht erlernen Kinder – verschiedenen Studien zufolge – zwischen dem fünften und achten Lebensjahr. Aber dass Medien Wirklichkeit manchmal nur inszenieren, verstehen sie erst später, einige erst ab einem Alter von zwölf Jahren.

Also je älter, desto medienkompetenter?

Nein, leider kann man das so nicht sagen. Die eigentliche Medienkompetenz – das, was wir Experten „media literacy“ nennen – ist nichts, was wir ab einem gewissen Alter automatisch voraussetzen können. Bei Kindern schon gar nicht, auch später bei Jugendlichen nicht. Und man sollte nicht vergessen: Es gibt auch noch genügend Erwachsene, die den Wahrheitsgehalt von Meldungen nicht kritisch hinterfragen, die nicht in der Lage sind einzuschätzen, ob eine Meldung real ist oder eine Inszenierung. Um das zu durchschauen, muss man erst einmal lernen, mediale Aussagen kritisch zu betrachten. Wenn man das nicht gelernt hat – warum sollte man dann dazu motiviert sein und es tun? Eltern haben da eine große Bedeutung, sie selbst geben vor, wie man Medien nutzt, was man mit Medien macht, ob und wie man darüber (nach)denkt.

Professor Herbert Scheithauer

Diese Medienkompetenz ist also das Gegengift bei einer Fake-News-Überdosis?

Ja, ich muss lernen, mit Medieninhalten, die ich konsumiere, kritisch umzugehen. Das meint, dass ich kritisch denke, dass ich mir Gedanken darübermache, welche Motivationen die Personen haben, mit denen ich in den Medien interagiere. Dieser kritische Ansatz muss dann auch für meine eigenen Medieninhalte gelten: Ich muss begreifen, dass die vielleicht auch eine gewisse Wirkung erzielen. Das kann – und muss – man Kindern spätestens dann vermitteln, wenn sie beginnen, eigene Medieninhalte zu produzieren.

Wie passen Fantasie oder „magisches Denken“ ins Bild? Beide haben ja auch nichts mit der Wirklichkeit zu tun.

Beim „magischen Denken“ ist für das Kind um das dritte Lebensjahr alles möglich. Dabei muss man sehen, dass Kinder ja auch die Motivation haben, bestimmte Dinge glauben zu wollen. Da sind wir beim Weihnachtsmann oder Osterhasen. Daran halten Kinder länger fest, auch wenn sie vielleicht gar nicht mehr so sicher sind, dass es diese Figuren wirklich gibt. Auch im Spiel gehen sie über die Grenzen dessen hinaus, was „wirklich ist“. Wenn sie Rollen einnehmen, das Gefühl haben: Ich bin jetzt ein Pirat! Und dieses Verhalten ist ja von den Eltern, dem Umfeld, eigentlich der ganzen Gesellschaft geradezu erwünscht. Es ist Teil der Fantasieentwicklung, die so wichtig ist. Kinder müssen spielen, sich ausprobieren, dabei fremde Rollen einnehmen, in diesen aufgehen. Bereits mit Beginn des Schulalters geht dieses magische Denken zurück, und sicher ist es so, dass es ab einem Alter von elf, zwölf Jahren schwindet.

Wie macht man Kindern verständlich, dass die Wahrheit nicht immer das Beste für alle ist?

Wenn Kinder in ein Alter kommen, in dem sie verstehen, was Lüge ist und was Wahrheit, machen viele eine para-oxe Erfahrung: Sie erleben, dass ihre Eltern in bestimmten Situationen auf einmal unehrlich sind – vom Kind aber immerzu Ehrlichkeit einfordern. Eltern lügen zum Beispiel, um sozialen Konventionen zu genügen, um jemanden nicht zu verletzen. Möglicherweise, wenn man ein Geschenk nicht so toll findet, dem Schenkenden gegenüber das aber ganz anders sagt. Kinder empfinden diesen Widerspruch – ich darf nicht lügen, die aber schon – verständlicherweise zunächst einmal als ungerecht. Deshalb muss man solche Situationen mit ihnen durchsprechen und die elterliche Motivation genau erklären.

Wahre Nachrichten sind oft schlecht. Als Eltern denkt man manchmal, zu viel Wahrheit ist nicht gut …

Bestimmte Themen sind für Kinder noch schwer begreifbar. Kinder unter drei Jahren haben noch keine Vorstellung vom Tod, von der Endlichkeit des Lebens. Erst etwa ab elf, zwölf Jahren erfassen sie die Bedeutungen wirklich. Jüngere Kinder können sich auch nicht erklären: Warum hungert da in den Nachrichten jemand? Die Logik für ein Kind ist doch: Da hungert jemand, also gebe ich ihm zu essen. Ich glaube schon, dass wir aufpassen müssen, was wir Kindern zumuten. Eltern müssen schlechte Nachdrichten und schlimme Wahrheiten so aufbereiten, dass sie für Kinder im jeweiligen Alter zumutbar sind. Sonst sind die Kinder schnell überfordert und überlastet.

* Das Interview führten Leslie Middelmann und Dr. Thomas Voß von der MA HSH.