Interview

„Ich muss nicht gleich über Erwachsenen-Sex sprechen"

Ihr Aufklärungsbuch „Wie sag ich's meinem Kind" gibt es kosenlos als PDF-Download: krachbumm.com/aufklärung

Sexualpädagogin Katja Grach über richtiges Timing bei der Aufklärung. Und wie gute Medien Eltern dabei unterstützen.

Sextoy-Werbung, die im Nachmittagsfernsehen läuft – ist man Spießer, wenn man das bedenklich findet?

Nein, da ist man nicht spießig, wenn man das an diesem Ort zu dieser Zeit nicht gesendet sehen möchte. Ich kann das Unbehagen durchaus nachempfinden, diese Werbung gehört da nicht hin. Ich würde das allerdings in Relation stellen mit Gewaltdarstellungen in Medien, die für Kinder genauso leicht erreichbar sind, zum Beispiel bei „Fortnite“.

Haben Sie das Gefühl, dass die meisten Kinder „gut“ aufgeklärt sind?

Mir fällt auf, dass gerade im schulischen Bereich die Aufklärung „eingespart“ wird, wenn ohnehin Sprachbarrieren bestehen oder wenn sonstiger sonderpädagogischer Bedarf besteht. Dann fällt das hinten runter. Aufklärung wird auch schwierig, wenn Lehrer*innen Angst haben, religiöse Gefühle – jeglicher Ausrichtung – zu berühren,
und es dann lieber lassen.

Viele Eltern überkommt ein Schaudern, wenn es so weit ist: „Wie sag ich's meinem Kind?“ Was macht es den Eltern so schwer?

Für meine Generation – ich bin 39 – ist nach meiner Erfahrung Sexualität immer noch weitgehend mit Scham und Schuld besetzt. Wir sind in der Mehrzahlnicht angemessen von unseren Eltern aufgeklärt worden. Woher sollen wir also wissen, wie es richtig geht? Er herrscht da- her immer noch eine gewisse Sprachlosigkeit bei dem Thema. Gleichzeitig sind wir täglich mit einer Sexualisierung in den Me- dien, Werbung, Popmusik konfrontiert. Klar, dass man sich bei diesem Thema unbehaglich fühlt, nicht gleich die richtigen Worte findet, auch gar nicht weiß, wie man die Gespräche angehen soll.

Wir sind in der Mehrzahl nicht angemessen von unseren Eltern aufgeklärt worden.

Katja Grach

Wie soll man sie denn am besten angehen, wann ist ein guter Zeitpunkt?

Wir glauben, wir müssten mit Fünfjährigen gleich über Erwachsenen-Sex sprechen. Das ist aber Unsinn, Kinder interessieren sich dafür, wie das Baby im Bauch isst, wie es dort hineinkommt, wie die Geburt funktionieren soll, wenn die Mama ja immer eine Unterhose anhat. Solche Fragen kann man kurz und knapp beantworten, und alles um Erwachsenen-Sexualität und Lust herum braucht das fragende Kind in diesem Alter nicht zu wissen.
Grundsätzlich beginnt Aufklärung quasi am ersten Tag, indem ich Dinge benenne, wie sie heißen. Während ich zum Beispiel die Windel wechsle, rede ich von Penis und Vulva, vermeide verniedlichende Bezeichnungen, die auch immer ein Ausdruck von Scham sind. Und von da an geht es immer weiter. Wenn sich Kinder zum Beispiel in der Öffentlichkeit ans Geschlechtsteil fassen. Dann erklärt man, dass es grundsätzlich okay ist, aber im Privaten, zu Hause – und auch dort gibt es einen passenden Ort, so wie man Zähne im Badezimmer putzt und bei Tisch isst. Im Grundschulalter ist erstes Verliebtsein oft schon ein Thema, Geschlechterrollen sind es auch. Über die Veränderungen in der Pubertät sollte man geredet haben, bevor es losgeht.

Das heißt, dass es nicht das „eine Gespräch“ gibt, sondern viele. Wir erklären Kindern inzwischen die komplexesten Zusammen- hänge, wie das Weltall funktioniert – da sollten wir bei Sexualität genauso wenig einen Bogen drum machen!

Und woran hapert es am meisten?

Eltern warten darauf, dass Kinder ihnen Fragen stellen. Viele fragen, manche aber nie. Das ist dann sehr bequem. Kinder erkennen, wenn das ganze Thema den Eltern unangenehm ist, und so versandet die Aufklärung ganz schnell. Wer mit dem großen Gespräch wartet, bis die Kinder in die Pubertät kommen, dem kann ich sagen: Das ist definitiv die schlechteste Zeit!

Gerade Jugendliche können heute im Netz selbst Nachforschungen starten …

Wir haben zu meiner Zeit in der Grundschule im österreichischen Wörterbuch nach den Stichworten „Sex“ und „Bumsen“ ge- sucht. Heute stehen den Jugendlichen natürlich ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung. Und es gibt im Netz große Mengen seriöser Infos. Nur muss ich die auch finden! Wenn ich aber über eine Suchmaschine losgehe, lande ich mit viel größerer Wahr- scheinlichkeit auf einer Pornoseite. Eltern denken gerne, solange mein Kind kein Handy hat, sind wir auf der sicheren Seite. Aber es gibt immer Schulkamerad*innen, die an der Bushaltestelle mit ihrem Gerät etwas Krasses herumzeigen.

Eltern warten darauf, dass Kinder Fragen stellen. Viele Fragen, manche aber nie.

Katja Grach

Da treffen sich Aufklärung und Medienkompetenz

Genau, und optimal wäre, wenn Eltern im Vorfeld solcher Aktionen schon einmal klargemacht hätten: Es kann sein, dass du plötzlich Bilder siehst, die dir Angst machen oder dich verwirren. Das ist nicht deine Schuld. Dann kannst du immer zu uns kommen und wir helfen dir. Ein einfacher Tipp für jüngere Kinder ist: Dreh’ das Handy um, wenn dich etwas verstört, egal ob Sex oder Gewalt. Medienkompetenz und Aufklärung muss man zu- sammen denken: Wir muten Kindern viel zu, wenn wir ihnen ein Handy in die Hand drücken und dann nicht kontrollieren, ob sie alt genug sind für Social-Media-Plattformen und diverse Spiele, auf denen sie schnell Ziel von Cybergrooming werden können. Leider passiert es immer wieder, dass schon Zehnjährige „Dick Pics“ geschickt bekommen.

Sollen wir die digitalen Medien nun eher verdammen oder lobpreisen, wenn es um Aufklärung geht? Gibt es auch „gute Seiten“?

Nicht alle Eltern können, aus welchen Gründen auch immer, das Thema gut abdecken. Kitas und Schulen haben die Möglichkeit, in diesem Fall Lücken zu schließen. Abgesehen davon ist Sexualität ein so riesiges Thema, da gibt es immer was dazuzulernen. Antworten auf Fragen wie „Warum bluten Mädchen plötzlich?“ müssen allen Schüler*innen zugänglich sein. Bücher und Flyer sind aber nicht für alle niederschwellig genug, manche Kinder haben zu Hause keine Privatsphäre oder dürfen solche Materialien nicht besitzen. Da helfen seriöse Angebote wie die barrierefreien Webseiten zanzu.de (in ganz vielen Sprachen), loveline.de oder der YouTube-Channel „ausgesprochen.unaufgeregt“.

Wir hätten zum Abschluss noch gerne ein paar generelle Tipps zu Gesprächen über Sexualität.

Alle, denen das nicht leichtfällt, dürfen gerne einmal tief durchatmen. Und sagen: „Da muss ich jetzt selbst mal ein bisschen überlegen!“ Und vor allem muss ich mich auch fragen, aus welchem Hintergrund die Frage kommt. Da lesen wir Eltern gerne mal zu viel hinein. Das ist mir passiert, als mich mein Sohn mit fünf Jahren fragte: „Mami, wie mache ich Sex? Mit der Hand?“ Es dauerte eine Weile, bis ich rausgefunden hatte, dass er nur mit seinen Fingern bis sechs zählen wollte …