"Wir wollen Ansprechpartner auf Augenhöhe sein"

Thomas Hillers

leitet die Social-Media-Sprechstunde an der Waldschule Hatten
in Niedersachsen. Viele Kinder und Jugendliche, die Hilfe suchen, wurden in Social Media mit verstörenden Inhalten konfrontiert.

Herr Hillers, verraten Sie uns, was in Ihrer Sprechstunde zuletzt ein Thema war?

In letzter Zeit kursiert wieder ein Kettenbrief, den es schon vor Jahren gab. Der Absender stellt sich als ,,Momo" vor und sieht auf dem mitgesandten Bild aus wie ein Monster aus einem Horrorfilm. Im Text wird der Empfänger aufgefordert, den Brief weiterzuleiten, sonst passiere etwas Schlimmes. Ältere lachen über so was, aber Fünftklässlern kann das richtig Angst machen, also kommen sie zu mir.

Wie können Sie in so einer Situation helfen?

Ich kläre sie darüber auf, dass es exakt diesen Kettenbrief schon vor mehr als zehn Jahren gab. Dass es sich um einen üblen Scherz handelt, der nur ein Ziel verfolgt: jungen Menschen Angst zu machen. So kommen wir in ein Gespräch über die Frage, wie Manipulation genau funktioniert. Und wie man auf so was reagieren sollte.

Und wie sollte man reagieren?

Im Falle von Momo: gar nicht. Einfach löschen. Es gibt aber auch Fälle, wo die Lage komplizierter ist. Zum Beispiel, wenn man Fotos oder Videos erhält, die verbotene und oft extrem grausame Inhalte zeigen. So geistern seit geraumer Zeit Videos von Hinrichtungen durch mexikanische Drogenkartelle durchs Netz. Oder Kinderpornografie, Folterszenen, Tierquälerei, wirklich ganz abscheuliche Sachen. Ich habe hier Jugendliche sitzen, die mir sagen, dass sie nicht mehr gut schlafen, weil sie diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Hinzu kommt, dass es in solchen Fällen auch eine juristische Dimension gibt. Wenn das Chatprogramm die Inhalte nämlich automatisch auf dem Handy speichert, ist man technisch gesehen sofort „im Besitz" dieser Aufnahmen. Und das allein kann schon eine Straftat sein.

224 Minuten beträgt die tägIiche Online-Nutzung der 12- bis 19-Jährigen in Deutschland (JIM-Studie 2023). Am Wochenende ist die Nutzung allerdings deutlich länger als unter der Woche.

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Können Sie eigentlich noch gut schlafen?
Besonders grausame Inhalte lasse ich mir grob beschreiben. Ich selbst sehe mir das nicht an, auch, um zu zeigen, dass man sich ernsthaft vor so was schützen muss. Je nach Inhalt entscheide ich dann, was zu tun ist. In der Regel rate ich dazu, die Datei zu löschen und den Absender zu blockieren. Wenn ich aber Grund zur Annahme habe, dass die Dateien für Ermittlungsbehörden relevant sein könnten, fordere ich die Betroffenen auf, ihr Handy der Polizei zu übergeben. Wenn es Anzeichen für ein Trauma durch die Darstellungen gibt, biete ich den Schülerinnen weitergehende Hilfe durch Beratungslehrerinnen oder Schulpsycholog*innen an.

Wer verschickt so was eigentlich und warum?

Es gibt ganz unterschiedliche Absender. Manchmal kommen die Nachrichten von anonymen WhatsApp-Accounts im In- oder Ausland. Manchmal leiten Schülerinnen so was aber auch per Airdrop weiter, also über eine offene Bluetooth-Verbindung. Auf diese Weise muss man nicht mal die Telefonnummer des Empfängers kennen. Es reicht, wenn man sich in der Nähe aufhält. Dann kann man sogar beobachten, wie das Opfer auf die Nachricht reagiert. Oft scheint es wirklich nur darum zu gehen, den anderen einen Schrecken einzujagen. Es gibt aber auch echte Versuche, Geld zu erpressen. So kursieren immer wieder Nachrichten, deren Absender behaupten, sie hätten die Laptopkamera des Empfängers gehackt und ihn bei privatesten Dingen gefilmt. Dann drohen sie, die Aufnahmen zu veröffentlichen, wenn man nicht zahlt. Auch wenn nur einer von 10.000 Empfängerinnen darauf hereinfällt, kann sich so was schon lohnen.

27 Prozent der 12- bis 19-Jährigen konnten in der „JIM-Studie 2023" von sich sagen, Im letzten Monat keine negativen Erfahrungen Im Internet gemacht zu haben. Befragt wurden sie z. B. nach Hassrede, ungewollt aufgerufener Pornografie oder Gewaltvideos.

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Der Bedarf an Hilfe und Beratung in diesem Bereich scheint enorm zu sein. Was würden Sie Schulen raten, die Ihrem Beispiel folgen möchten?

Ich glaube, es ist wichtig, dass Lehrkräfte, die eine solche Sprechstunde anbieten, sich mit der Materie auskennen, um auf Augenhöhe zu kommunizieren. Tatsächlich bin ich auf so ziemlich allen Plattformen, von Telegram über Reddit bis YouTube, unterwegs und erfahre auf diese Weise oft schon früh, was gerade „trendet", also wo der nächste Hype entsteht. Das kann der „Deo-Test" sein, bei dem man sich minutenlang Deo auf die Haut sprüht, bis es zu schmerzhaften Vereisungen kommt. Oder die „HotChips-Challenge", bei der ein Cracker gegessen wird, der so scharf ist, dass Jugendliche dabei schon kollabiert sind. Solche Mutproben kochen in regelmäßigen Abständen im Netz hoch, und wenn es mal wieder so weit ist, rufen wir erst die Klassen 5 bis 7 und im Anschluss die Klassen 8 bis 10 zusammen und klären sie über die Gefahren auf. Wir wollen Ansprechpartner für die Kinder und Jugendlichen sein.

Mutproben kochen regelmäßig im Netz hoch.

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Immer die neuesten Netztrends erkennen und direkt auf sie reagieren: Können Lehrerinnen das neben ihrer eigentlichen Arbeit überhaupt leisten?

Das ist eine Herausforderung, aber eine, der wir uns stellen müssen. Außerdem stellt die Beschäftigung mit diesen Themen auch eine Chance dar, über grundlegende Fragen des sozialen Miteinanders zu sprechen. Im vergangenen Jahr etwa wurde ein zwölfjähriges Mädchen in Deutschland von zwei Mitschülerinnen getötet. Als wenig später ein Social-Media-Account des Opfers im Netz geteilt wurde, gingen dort massenweise Beileidsbekundungen ein.
Wir haben dann sofort eine Vollversammlung einberufen und unseren Schülerinnen erklärt, warum sie sich an solchen digitalen Mobs nicht beteiligen sollten, auch wenn sie es gut meinen. Wir haben erörtert, inwiefern Anteilnahme in den sozialen Medien ein Vorwand sein kann, die eigene Bekanntheit zu steigern. Und wir haben darüber gesprochen, dass Trauer etwas Privates ist und nicht in der Öffentlichkeit verhandelt werden sollte. Da geht es um ganz zentrale ethische Fragestellungen.

Im besten Fall findet digitale Aufklärung also präventiv statt, um Schülerinnen auf die Gefahren im Netz vorzubereiten?

Ich denke, es muss beides geben. Prävention und Hilfsangebote. Und beides funktioniert nur, wenn Lehrkräfte sich wirklich auf die Inhalte einlassen, damit sie mitreden können. Ein Beispiel hierfür sind die zahlreichen Verschwörungstheorien, die im Netz kursieren. In meine Sprechstunde kommen immer wieder Schülerinnen, die im Netz von Ufo-Sichtungen, Reptilienmenschen oder den „Himmelsmenschen Anonaki" gehört haben. Da ich mich auch regelmäßig von den Algorithmen in die Abgründe dieser Verschwörungserzählungen treiben lasse, bin ich immer schon ganz gut im Bilde und kann helfen, die Mechanismen von solchen Geschichten zu verstehen. Meistens geht es bei Verschwörungstheorien ja darum, einen Schuldigen zu finden, dem man alles Böse anhängen kann. Wenn Schülerinnen, die zutiefst verunsichert sind, nach dem Gespräch mit einer Form von Erkenntnis- und Handlungssicherheit wieder gehen, habe ich mein Ziel erst mal erreicht.