Medienerziehung

Das ist doch ein Kinderspiel. Oder?

Was machen digitale Medien mit kleinen Kindern? Was machen kleine Kinder mit digitalen Medien? scout hat sich auf Spurensuche begeben – in Kinderzimmern und Kitas im Norden.


Ein Mädchen und ein Junges bedienen zusammen ein Tablet
Tablets sind kinderleicht zu bedienen. (c) Felix Amsel

Soll ich noch mal in die Schleimbox?“, fragt Ludwig. Es ist Samstagnachmittag, der Sechsjährige sitzt am großen Tisch im Esszimmer mit Blick auf den Hafen und darf „Ei-Pätten“. Ludwig hat schon einige Abenteuer in der Spiel-App Cut the Rope gemeistert. Jetzt weiß er nicht mehr so genau, was er noch mit der digitalen Wischtafel anfangen soll. Ein weiteres Mal ins Schleim-Abenteuer stürzen? Oder ganz ausmachen?

Was mag dieses kleine Fenster zur Welt, das nicht viel größer ist als ein Frühstücksbrettchen, aber deutlich multifunktionaler, einem Kind dieses Alters bedeuten? Es ist schließlich alles drin, was das kleine Herz begehren mag: die Lieblingshelden bei YouTube, Familienfotos und -filme, die Abenteuer von Benjamin Blümchen als Hörbuch, Spiele-Apps und virtuelle Musikinstrumente.

Großen Aufschluss kann man von den Kleinen nicht erwarten, wenn man sie nach der Bedeutung fragt. Ludwig sagt: „Ich finde das eben gut.“

Die Schweizer Psychologin Barbara Leu hat vor 15 Jahren untersucht, wie Kinder Computer wahrnehmen. Das ­ist zwar lange her, die Ergebnisse sind aber immer noch sehr interessant: Damals neigten Vorschulkinder jedenfalls dazu, Geräte wie Fernseher oder Computer als lebendige Wesen zu betrachten.

Ludwigs Vater sieht das übrigens ähnlich. Er sagt, das iPad sei „wie ein weiterer Mitbewohner“, ein Alleskönner mit vielen tollen Begabungen – aber auch um Aufmerksamkeit buhlend. Der Sohn stöbert durch den Ordner mit den „Kindersachen“ und landet dann bei der App Emoji. Es ist eigentlich eine Sammlung von Emoticons, also von Piktogrammen.

„Das Spiel hier heißt ‚Müll‘“, sagt Ludwig. Er hat den Namen erfunden, eigene Regeln entwickelt: Die frei über den Monitor schwebenden Bildchen müssen zu Päckchen verbunden und hin und her geschoben werden. Die kleinen Finger flutschen in Höchstgeschwin­digkeit über den Monitor, folgen einer geheimen Choreografie.

So manchen mag es grausen, das Bild eines Vorschülers, der ganz offensichtlich in die Klauen der digitalen Versuchung geraten ist. Ein kommender Nerd, der zu einem blutleeren und un­sozialen Menschen heranwachsen wird. Medienpädagogen von Rang haben solche Szenarien beschrieben, ungefähr zehn Jahre ist das her.

Ludwigs Vater, ein Professor für Geschichte, zuckt mit den Schultern: „Wenn Ludwig so kreativ mit diesen Emojis umgeht, dann hat das für mich durchaus auch Ähnlichkeiten mit dem ‚wertvollen Holzspielzeug‘, das ja bekanntlich die Fantasie anregen soll.“

Der Sechsjährige steht vom Esstisch auf und sagt: „Ich will jetzt was Richtiges spielen.“ Er holt sich einen Rennwagen-Bausatz von Lego, den er vergangene ­Woche zum Geburtstag bekommen hat, und studiert gründlich die Bilder der Bauanleitung. Dann ordnet er die Teile. ­Der ­Vater fragt, ob er etwas trinken möchte.

Der Junge ist aber nicht ansprechbar. Vertieft ins Spiel, nicht mehr und nicht weniger als gerade eben noch bei Cut the Rope auf dem wundersamen Tablet. „Ei-Pätten“ kann. Muss aber nicht.

Das digitale Kleinkind

Ein Kind schaut auf ein Tablet mit bunten Kreisen
Spielen, stöbern, Bilder gucken: Geht auch schon mit kleinen Händen. (c) Felix Amsel

Während die heutige Elterngeneration als „Digital Natives“ noch einigermaßen behutsam und langsam ins multimediale Leben hineinwuchs, beginnend mit piependen und unglaublich langsamen Modems, kommen kleine Kinder heute schon im Windelalter in Kontakt mit blitzschnellen Alleskönner-Medien. Deren vielfältige Inhalte vermögen sie auf den ersten Blick nicht leicht von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Da wischt ein Kleinkind, kein Jahr alt, am Flughafen über das Fenster mit Blick auf die Rollbahn: Das nächste Wimmelbild soll her!

Sollen wir reglementieren? Verbieten? Verbannen? Laufen lassen?

scout
Ein Kinderfinger fährt über ein Tablet
Spieglein, Spieglein … (c) Felix Amsel

Die neue „Tatsch-Technologie“, bedienbar schon vor dem Erwerb der Muttersprache, verschiebt die Grenzen der medialen Kindheit mit aller Macht in Richtung Schnulleralter. Für die älteren Gruppen, für Kinder in den weiterführenden Schulen, gibt es schon sehr breit gestreute medienpädagogische Angebote. Fast alle Probleme und Gefahren, die das Web 2.0 und neue mobile Endgeräte mit sich bringen, sind in Deutschland gut und gründlich aufgearbeitet – für Eltern, Lehrer, auch für die Jugendlichen selbst.

Nun sind die Kleinen an der Reihe. „Was tun?“, fragen sich Eltern und Pädagogen. Sollen wir reglementieren? Verbieten? Verbannen? Laufen lassen? Noch gibt es keinen wirklichen Konsens zum Umgang mit digitalen Medien im Kleinkindalter. Viele Eltern reagieren jedenfalls allergisch auf die Invasion des Digitalen im Kinderzimmer.

Da sitzt zum Beispiel Kerstin Engels, 36-jährige Umweltwissenschaftlerin, mit ihrem 18 Monate alten Sohn Jonas auf dem Schoß in ihrer Wohnung auf dem platten Land in der Nähe von Elmshorn. Sie sagt: „Ich will auf jeden Fall versuchen, den Kleinen so medienfern wie möglich zu erziehen.“ Jonas greift zu einem Bilderbuch, dann zu einem dicken Stift, den er auf eine gezeichnete Biene drückt. Eine Stimme spricht aus dem Stift heraus, erzählt, dass Bienen summen und Honig herstellen. Zwei Laptops und ein Smartphone liegen auf Kommode und Fensterbank. So also sieht Medienferne im Jahr 2014 aus.

Im Stande der Unschuld

Die Dortmunder Medienpädagogik-Professorin Gudrun Marci-Boehncke stellte unlängst fest: „Kinder sind heute immer medial. Es sei denn, sie schlafen.“ Und das stimmt sicher, wenn man klassische Medien wie Bilderbücher, Kassettenrekorder und das Fernsehen hinzuzählt. Doch so allgegenwärtig, wie digitale Medien angeblich im Leben der Kleinen sein sollen, sind sie vielleicht noch gar nicht.

Es gibt bei vielen Erwachsenen dieses diffuse Gefühl, Kinder würden heute quasi mit USB-Anschluss geboren. Die Zahlen der aktuellen miniKIM-Studie widersprechen diesem Gefühl allerdings. In wenigen Sätzen zusammengefasst sagt die Studie: Am wichtigsten sind den Zwei- und Dreijährigen ihre Bücher. Die Vier- und Fünfjährigen beschäftigen sich auch viel mit Büchern, schauen aber noch lieber fern. Computer, Tablets, Smartphones werden hingegen – noch – vergleichsweise wenig genutzt. Die Beschäftigung mit Medien spielt, betrachtet nach Zeit­aufwand und Bedeutung, eher im Mittelfeld mit. Wichtiger ist den kleinen Kindern immer noch und weiterhin: drinnen und draußen spielen, Freunde treffen und musizieren.

Und selbst wenn das Digitale sich langsam in den Vordergrund der medialen Kindheit schieben sollte – wäre das wirklich so schlimm? Wenn Ludwig durchs iPad stöbert, Jonas dem sprechenden Buch lauscht, überhaupt fast immer, wenn kleinere Kinder mit digitalen Medien spielen, dann geschieht ­das ja noch „im Stande der Unschuld“. Kontroverse Themen wie Cybermobbing, Online-Spielsucht oder Datenschutz liegen in weiter Ferne. Denn derlei Probleme beginnen bislang, nach aller Erfahrung, erst ab der dritten oder vierten Klasse und greifen dann in den Klassen sechs bis acht vermehrt um sich.

Kleinkinder machen noch gar nicht so viel mit digitalen Geräten, wie die miniKIM-Studie zeigt. Und es kann auch nicht so viel Schlimmes dabei passieren. Woher kommt also das Unbehagen? Vielleicht hängt es mit unseren Vorstellungen von Kindheit zusammen. Die Pädagogik hat heute jeden Bereich kindlichen Handelns urbar gemacht. Selbst das Treten in Pfützen gilt als „wertvolle Naturerfahrung“. Viele ­Eltern und Pädagogen, bei Letzteren vor allem die etwas älteren, hängen dem antiquierten Bild einer behüteten Kindheit nach. Kinder sollten möglichst lange bewahrt werden vor schlechten Erfahrungen. Eltern haben oft Angst: Was kann den Kindern nicht alles passieren!

Medienferne als Schutzhelm

Es ist ganz schön widersprüchlich: Durfte die jetzige Generation von Familiengründern selbst noch ganze Nachmittage im „Draußen“ verschwinden, schwebt sie jetzt selbst als „Helikopter-Eltern“ über ihren Kindern. Der Pädagoge Herbert Renz-Polster erzählte in einem Interview mit der FAZ: „Kürzlich ist der Kleine von Bekannten, der gerade mit dem Laufen beginnt, zwei Treppenstufen hinuntergefallen. Seine Eltern wollen ihm jetzt einen Helm aufsetzen.“ Ist die „Medienferne“, die von vielen Eltern gefordert und praktiziert wird, nicht auch so eine Art „Schutzhelm“ und mindestens halb so albern?

Die Eltern haben Angst vor Treppen. Und vor gefährlichen Fallschlingen in der digitalen Welt. Kinder im Lauflern-Alter werden immer wieder mit Treppen konfrontiert. Da mögen sich Eltern noch so sehr wünschen, es gäbe keine Stufen, die der Nachwuchs hinunterfallen könnte. Es gibt eben Treppen. Und es gibt digitale Medien. Kleinkinder wachsen heute schon ab Geburt „mediennah“ auf. Doch anders als ihre Eltern legen kleine Kinder die Geräte irgendwann wieder zur Seite. Und machen etwas ganz anderes. So wie es Ludwig tut, wenn er zum Lego-Rennwagen greift.

Kinder als Produzenten

Eine Frau liest Kindern aus einem Buch vor
„Äktschn!“ Katrin Schoon und die „Farbenspiel“-Vorschulkinder. (c) Felix Amsel

Weil Eltern in Sachen „digitale Medienbildung bei Kleinkindern“ zu großen Teilen verunsichert sind, wird der Ruf nach solchen Angeboten in den Kitas immer lauter. Dass die Medienbildung dort stattfinden sollte, ist längst in den Bildungsplänen für Kindergärten der meisten Bundesländer festgeschrieben, neben Themen wie „Sprachförderung“ oder „Körperhygiene“. Nur hat sich die Medienbildung trotzdem noch kaum durchgesetzt – aus Zeitgründen, aus fehlender Kompetenz und mangelnder Erfahrung. Manche Erzieherin oder mancher Erzieher mag es aber klammheimlich wie der Hirnforscher Manfred Spitzer sehen. Der meint: „Ein iPad im Kindergarten ist Kindesmisshandlung!“

Dabei kann Medienarbeit im Vorschulalter doch ein richtiges Kinderspiel sein. Zum Beispiel so: Benjamin (6) ruft „Äktschn!“ und drückt auf den roten Knopf der Videokamera. Auf dem Monitor der Kamera ereignet sich ein kleines Drama: „Sollen wir Krieg machen?“, fragt ein kleiner Pirat mit Augenklappe und verwegenem Kopftuch. „Okay“, ­antwortet ein Roboter ganz freundlich. Der Pirat greift mit dem Schwert an, der Roboter kann Kung Fu und wehrt die Schläge ab. Mitten in der Aktion sagt Kindergärtnerin Katrin Schoon laut „Stopp“ und breitet die Arme auseinander. Die Bewegungen von Roboter und Pirat frieren ein. Schnell treten zwei kleine Helfer der Requisite auf, wechseln das Schwert gegen einen Besen aus. Der Roboter bekommt eine orangefarbene Perücke aufgesetzt. „Äktschn“, ruft Benjamin wieder, die Kamera läuft. Der Pirat sagt: „Hä?“ ­

Der Roboter fragt: „Was habe ich denn auf dem Kopf?“

„Und aus“, ruft Katrin Schoon, ­stellvertretende Leiterin der Heimfelder Kita „Farbenspiel“ und deren „Medienbeauftragte“. Der Film mit dem kleinen Stopp-Trick ist im Kasten. Die Geschichte dazu haben sich die fünf- und sechsjährigen Kinder selbst ausgedacht, die passenden Kostüme von zu Hause mitgebracht. Die Vorschulgruppe der Kita trifft sich jeden Vormittag zur „Medienstunde“. Mittlerweile sind die Kids schon echte Multimedia-Profis, verkabeln Geräte fachgerecht, bauen ­gemeinsam Stative auf. Nach der Produktion setzen sie sich im Halbkreis ­­vor einen Laptop und schauen sich das ­Arbeitsergebnis an. Der Stopp-Trick wird mit großem Gelächter aufgenommen. Eben noch waren die Kinder ­Produzenten, wenig später sind sie ihre eigenen Konsumenten.

Das Kaninchen und die Schlange

Nur in den wenigsten Kitas im Norden gibt es regelmäßige Medienangebote, wie sie im „Farbenspiel“ zu finden sind.

Katrin Schoon hat früher selbst Seminare zur Medienarbeit für Erzieherinnen ge­geben, referierte dann, wie Kameras und Computer in den Alltag von Kindergärten eingebunden werden können. Jetzt ist sie auf die andere Seite gewechselt und sagt: „In der Theorie ist das alles leicht umsetzbar, in der Praxis wird die Zeit doch oft recht knapp.“ Manchmal macht sie deshalb kleinere Projekte allein fertig. Ohne die Kinder, weil die Zeit nicht reicht: „Und das ist ja eigentlich nicht der Sinn der Sache.“

Kinder gehen ganz im digitalen Spiel auf, verlieren sich aber nicht darin.

scout

Den Kindern ist der Prozess nämlich wichtiger als das Ergebnis. Darin unterscheiden sie sich von den Erwachsenen. Sie gehen ganz im digitalen Spiel auf, verlieren sich aber nicht darin. Ihnen ist es auch egal, mit welchem Gerät sie spielen können und wo sie ihre Abenteuer erleben: im Garten, vor der Kamera, im eigenen Film auf dem Laptop. Eltern brauchen deshalb nicht auf digitale Endgeräte zu schauen wie ein Kaninchen auf die Schlange. Es geht darum, was die Kinder mit Medien tun. Das verrät, womit sie sich im Innersten beschäftigen. Wenn Kinder mit Geräten wie dem Tablet hantieren, dann wirkt das oft sehr souverän, sehr „reif“. Das ist vielleicht ein weiterer Grund, warum viele Erwachsene ablehnend reagieren. Ein bisschen schwingt wohl immer auch die verständliche Angst mit, man könne die Kinder, die in der Geschwindigkeit des digitalen Zeitalters aufwachsen, viel schneller „verlieren“.

Die Kleinen finden sich jedenfalls problemlos in der digitalen Welt zurecht, für sie ist es wirklich eher ein Kinderspiel.

Zum Projekt

Der kleine Multimedia-Film hat gerade den „Deutschen Multimediapreis für Kinder“ (www.mb21.de) gewonnen. Die Vorschulkinder des vergangenen Jahres hatten dafür die Gläser von Diarahmen bemalt, mit kleinen Figuren beklebt, die projizierten Bilder abfotografiert und sich eine Liebesgeschichte dazu ausgedacht.

Projekt "Eine Verliebensgeschichte" auf YouTube
Projekt "Eine Verliebensgeschichte" auf YouTube ansehen

Der Artikel ist in der scout-Ausgabe 1_2014 erschienen.

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