Verbieten? Begleiten!

Die aktuelle Diskussion um Smartphone- und Social-Media-Verbote macht eines klar: Wenn wir als Gesellschaft unsere Kinder und Jugendlieben nachhaltig schützen wollen, ist Medienkompetenzvermittlung ein wichtiges Werkzeug.


Die Schulleiterin und Autorin des Bestsellers „Wir verlieren unsere Kinder" Silke Müller beschreibt schreckliche Inhalte, die von alarmierend vielen Minderjährigen angeschaut würden: Hinrichtungs- und Tierquälvideos, Nazisticker, Pornokonsum der härtesten Sorte, sexuelle Ausbeutung Minderjähriger per „Cybergrooming". Daher wünscht sie sich, Kindern und Jugendlichen das Smartphone und die Social-Media-Nutzung zumindest bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres vorenthalten zu können. Auch wenn sie natürlich weiß, dass das illusorisch ist. Doch seit dem Herbst des vergangenen Jahres mehren sich die Stimmen, die laut nach strikteren Nutzungsverboten rufen und die Gefährdung der Jugend durch Social Media, TikTok und Co. beklagen. Sie stellen dabei eine „Verrohung" der Jugendlichen durch diese Dienste fest. Und sie mutmaßen zudem, sinkende schulische Leistungen kämen von der ablenkenden Nutzung.

Silke Müller

ist Schulleiterin und Bestsellerautorin. Sie beklagt schreckliche Inhalte auf Social Media, die von Kindern und Jugendlichen konsumiert werden.

Wirken Verbote wirklich?

Diese Rufe ertönen nicht nur in Deutschland. Weltweit sind unzählige neue Einschränkungen der Smartphone- und Social-Media-Nutzung in der Planung oder bereits umgesetzt. Schwedische Vorschulen, Vorreiter in der Digitalisierung, entziehen den Kindern wieder ihre Tablets, Französische Kommunen verschenken Handys ohne Internetzugang an Jugendliche, wenn diese aufs Smartphone verzichten. Aber wirken Verbote überhaupt? Die Zweifel daran kommen meist weniger lautstark daher, werden deshalb auch weniger wahrgenommen. Verbote haben den Charme, auf den ersten Blick sinnvoll und wirksam zu wirken. „Dabei sind strikte Verbote meiner Meinung nach aber mit einer gewissen Denkfaulheit verbunden", sagt die nordrhein-westfälische Lehrerin Anika Osthoff, die (Co-)Autorin eines weiteren Bestsellers zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen ist: „Begleiten statt Verbieten" heißt das Buch. Eines stört sie an der Diskussion besonders: „Es wird dabei so getan, als existierten bisher gar keine Verbote." Aber das stimme nicht: „Es gibt sie ja schon, sowohl in Schulen als auch in Elternhäusern." Und das sei ja auch gut so. Doch wie der Titel des Buches es schon nahelegt: Anika Osthoff hält die Begleitung des Nachwuchses durch den Medien-Dschungel für das wirksamere Mittel, um eine schützende Wirkung zu erzielen.

Anika Osthoff,

Lehrerin und Autorin, plädiert für die elterliche Medienbegleitung von Anfang an - und dafür, Internet, Apps und Social Media gemeinsam mit den Kindern zu entdecken.

Begleitung ab Tag eins

Begleiten heißt für sie: Ab dem ersten Tag der Mediennutzung an der Seite der Kinder zu sein, neue Apps und Dienste gemeinsam zu testen, regelmäßig einen Blick aufs Handy zu werfen, immer auf dem Laufenden zu sein: „Das ist ein ständiger Prozess, der nie aufhört. Und bei dem wir uns nicht irgendwann zurücklehnen dürfen und denken, es läuft schon." Und trotzdem könne immer noch etwas schiefgehen: „Dann weiß mein Kind, dass es sich jederzeit an mich wenden kann." Reine Verbote hingegen kappten diese Bindung zu den Jugendlichen.
Wie leicht es zudem für Jugendliche ist, Verbote zu umgehen, das konnte man unlängst im Magazin der Süddeutschen Zeitung nachlesen. Da wurden Jugendliche befragt, wie sie mit Verboten und technischen Einschränkungen wie Jugendschutzfiltern verfahren. In Kürze: Die lassen sich alle recht einfach knacken, die jungen Nutzer sind da sehr kreativ. Nicht zuletzt, weil die Jugendlichen technisch meist viel mehr draufhaben als ihre Eltern.

96 Prozent der 12- bis 19-Jährigen in Deutschland besitzen ein eigenes Smartphone. 93 Prozent der Jugendlichen nutzen täglich ihr Smartphone . 88 Prozent sind jeden Tag online.

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Es geht auch anders

Für die Schulen wird in der aktuellen Verbotsdiskussion etwas eingefordert, das eigentlich selbstverständlich sein müsste: Handys sollen den Unterricht nicht stören. Müssen dafür aber unbedingt strikte Verbote eingeführt und umgesetzt werden? Dass es anders geht, beweist das Küstengymnasium in Neustadt, wie dessen stellvertretender Schuldirektor Ralf Hübner erzählt: „Bei uns sind Smartphones während der Schulzeit erlaubt, wenn sie für schulische Zwecke und zurückhaltend genutzt werden." Lehrerinnen am Gymnasium sind aufgefordert, bei Schüler*innen nachzuhaken, wenn das offensichtlich nicht der Fall ist: „Wird gegen diese Regel verstoßen, kommt es eben zu Sanktionen." Weil alle - Schülerinnen und Lehrpersonal - Bescheid wissen, läuft das bis auf wenige Ausnahmen gut. Dann wird auch schon mal ein Gerät weggesperrt für die Dauer des Unterrichtstags. „Zur Erinnerung haben wir überall in der Schule freundlich erinnernde Post-its angebracht, die sagen: „Handy hat Pause". Hübner fehlen in der aktuellen Diskussion oft „Augenmaß und Realitätssinn". Schulen haben, jenseits des strikten Verbots, so viele Möglichkeiten, eigene sinnvolle und umsetzbare Medienregeln aufzustellen: Sie können die Nutzung zeitlich erlauben („Medienpausen" versus „Bewegungspausen") oder älteren Schüler*innen bestimmte Pausenräume für die Nutzung des Smartphones freigeben. Im Neustädter Gymnasium steht der liberale Ansatz zur Selbstkontrolle nicht auf einem Bein. Er geht stattdessen Hand in Hand mit intensiver Aufklärung rund um die Medienkompetenz.

Ralf Hübner

ist stellvertretender Schulleiter in Neustadt/Holstein und plädiert dafür, Regeln mit den Schüler*innen zu entwickeln.

Auf Prävention gesetzt
„Wir setzen sofort ab der 5. Klasse massiv auf Prävention, klären über alle möglichen Gefahren auf, die im Netz lauern", sagt Ralf Hübner. Die Schule biete zudem auch „Elterntraining" an, ermutigt die Erziehenden, „sich zu kümmern, zu kontrollieren, auch mal was zu untersagen". Auch Schulen können also begleiten, statt zu verbieten. Die Schule ist der eine Ort, an dem wirklich alle Kinder und Jugendlichen aus allen sozialen und familiären Hintergründen versammelt sind. Deshalb müssen genau hier verlässliche Medienkompetenz-Standards für alle sichergestellt sein, findet der Brandenburger Cyberkriminologe Professor Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger setzt sich wissenschaftlich mit digitalen Straftaten und „Interaktionsrisiken" in Social Media auseinander, eines seiner Themen ist „Kriminalprävention im Netz". Er sagt: „Da gegenwärtig die gesellschaftlichen Schutzmechanismen weitestgehend ineffektiv sind, ist die einzige echte Schutzmöglichkeit die verbindliche Vermittlung von Medienkompetenz in der Schule. Kinder bekommen teilweise ab der 1. Klasse Smartphones. Also muss die verpflichtende Vermittlung von Medienkompetenz an diesem Zeitpunkt starten!" Solches langfristige Investieren in Medienkompetenz könne die Risiken minimieren, dass Kinder zu Opfern oder auch selbst zu Tätern werden, sagt der Kriminologe.

Prof. Thomas-Gabriel Rüdiger

fordert verbindliche Medienbildung ab der 1. Klasse - damit Kinder nicht zu Opfern und nicht zu Tätern werden.

Bitte mehr Medienscouts!

Es gibt noch eine „dritte Kraft" neben Eltern und Lehrenden, die gerne übersehen wird in der Diskussion: die Jugendlichen selbst. In ganz Deutschland existieren gut funktionierende Peer-to-Peer-Projekte (also „unter Gleichen"), wo Schüler*innen höherer Klassen ihren jüngeren Mitschülerinnen ihr Wissen über eine sichere Mediennutzung vermitteln. Sie bilden sich dafür weiter, engagieren sich freiwillig. Sie sind Ansprechpartnerinnen, denen man bei Problemen vertraut. Leider sind solche Medienscout-Projekte in Hamburg und Schleswig-Holstein immer noch eher die Ausnahme als die Regel. „Hier liegt Potenzial brach", sagt Claudia Kuttner, die in Schleswig-Holstein Peer-Projekte vernetzt und in weiteren Bundesländern tätig ist: „Medienscouts sind nicht nur für ihre jüngeren und gleichaltrigen Mitschülerinnen wichtig als Ansprech- und Vertrauenspersonen – oft richten sie sich mit Fortbildungs- und Informationsveranstaltungen auch an weitere Zielgruppen wie Lehrkräfte und Eltern, Grundschulkinder und sogar Senior*innen. Medienscouts liefern zudem mit ihren Perspektiven und Expertisen wichtige Impulse in Schulen, zum Beispiel für deren Medienpläne."

Claudia Kuttner

organisiert bundesweit Medienscout-Projekte - und wünscht sich eine flächendeckende Verbreitung.

Alle sind gefragt

Silke Müller hat mit ihrem Buch eine sinnvolle Diskussion angestoßen. Es wäre schön, wenn diese in ihrem Verlauf nicht darauf verengt würde, das Verhalten der Jugendlichen zu regulieren. Unser Fazit: Die begleitende Vermittlung von Medienkompetenz ist ein wichtiges Werkzeug gegen Missbrauch und gefährdende Inhalte. Deshalb müssen alle an einem Strang ziehen: Eltern, Schule und auch die Jugendlichen selbst.