Falsche Freunde

Verlogene Streicheleinheiten:
Missbrauch durch Cybergrooming

ALENA MESS

arbeitet mit Schulklassen zu Cybergrooming: "Viele haben schon Erfahrungen damit gemacht."

Ella (Name geändert) war erst zwölf Jahre alt und auf Instagram, als ihr ein 14-jähriger Junge schreibt. Süßes Profilfoto, neu in der Stadt. Sie chatten, verstehen sich gleich gut, über Hobbys, was sie gerne machen. Er sagt, sie könne gut zuhören. Nach ein paar Tagen fragt er, ob sie schon Sex hatte – er wäre so gerne der Erste. Ob sie ein Nacktbild schicken könne? Ella tut das, fühlt sich irgendwie verpflichtet. Doch sofort erpresst der Junge mit dem Foto, fordert ein Treff en. Ella geht zu ihren Eltern, die zeigen den Jungen an. Er stellt sich als 42 Jahre alter Mann heraus, der einschlägig vorbestraft ist. Dokumentiert wurde der Fall von Dunkelziffer e.V.

Es ist ein typischer Fall von Cybergrooming, bei dem Erwachsene (meist Männer) Kinder und Jugendliche (meist Mädchen, hohe Dunkelziffer bei Jungen) in Netzwerken wie Instagram oder TikTok, getarnt als Altersgenossen, kontaktieren. Dann folgt das „Groomen“, man kann es mit „Seele streicheln“ übersetzen: Die Täter zeigen Verständnis, bauen Vertrauen auf. Über die Profile besorgen sie sich Infos, „sie schauen nach Jugendlichen, die verletzlich wirken. Sie spähen Hobbys aus, um Gemeinsamkeiten kommunizieren zu können. Sie zeigen großes Interesse am Gegenüber und machen auffallend viele Komplimente“, sagt Alena Mess, Fachreferentin für sexualisierte Gewalt und Kinderpornografie.

Die Kinder und Jugendlichen erkennen die Gefahr oft nicht, „weil sie sich zu Hause eigentlich sicher fühlen“, meint Alena Mess: „In der Welt da draußen, der Offline-Welt, haben sie das ‚Lass dich nicht von Fremden ansprechenʻ in der Regel verinnerlicht. In den digitalen Räumen versagt dann aber oft das gesunde Misstrauen.“ Auch die Eltern wiegen sich in Sicherheit: Was soll im Kinderzimmer schon Schlimmes passieren? Instagram ist bunt, TikTok witzig, das soll gefährlich sein? Viele Umfragen und Studien deuten aber darauf hin, dass diese Form der Kontaktaufnahme mittlerweile zum Alltag von vielen Kindern und Jugendlichen zählt. „Wenn ich in Schulklassen in weiterführenden Schulen nachfrage, wer schon mal von Fremden angeschrieben wurde, die sexuelle Absichten hatten, haben pro Klasse von 20 Schüler*innen bestimmt drei einschlägige Erfahrungen.“ Und „Dick Pics“ – sogenannte Penisbilder – haben nach der Erfahrung von Alena Mess in den Klassen 7 bis 9 eigentlich alle Mädchen schon einmal ungefragt zugeschickt bekommen.

Der direkte Draht, den soziale Netzwerke bieten, wenn Profile von jungen Nutzer*innen öffentlich sind, macht es potenziellen Tätern leicht: „Vor allem in der direkten Kommunikation können sich Minderjährige unter Druck gesetzt fühlen, spontan auf sexuelle Fragen und Aufforderungen reagieren zu müssen. Aufgrund ihrer Unerfahrenheit kann dies zu riskanten Entscheidungen führen, deren Folgen sie noch nicht absehen können, wie zum Beispiel, wenn sie in Aussicht auf Geldgeschenke intime Details preisgeben oder freizügige Fotos versenden“, schreibt jugendschutz.net in einem Bericht. Besonders gefährdet sind laut Alena Mess „Kinder mit wenig Selbstbewusstsein und aus schwierigen Lebenssituationen, wenn sich zum Beispiel Eltern gerade trennen“. Mobbingopfer seien anfälliger, auch Kinder mit sprachlichen Einschränkungen und insbesondere Kinder und Jugendliche, „die nicht ausreichend sexuell aufgeklärt worden sind und noch nicht gelernt haben, dass sie ‚Stopp!ʻ und ‚Nein!ʻ sagen können“.

Ausgerechnet das perfide Cybergrooming ist ein Thema, das noch nicht so richtig in der Breite angekommen ist. Eltern tun sich nach Erfahrung von Alena Mess schwer damit: „Zum einen wissen viele Eltern nicht, was Cybergrooming eigentlich bedeutet, und reagieren aus Angst und Unsicherheit mit Verboten. Oder sie sind der Überzeugung, dass ihrem Kind so etwas nicht passieren wird.“

Eltern schieben die Verantwortung gerne in die Schulen, ist ihre Erfahrung. Die Lehrenden seien aber, beobachtet sie, „von der Thematik häufig einfach überfordert“. Alena Mess plädiert dafür, dass sich Schulen die Expertise von außen holen. Sie selbst wird regelmäßig von Schulen für Veranstaltungen gebucht: „Wenn ich dort von realen Beispielen erzähle, hole ich die Schüler*innen sofort ab.“