Wie Kinder Medien wahrnehmen

Die Katze ist wirklich traurig

Kinder nehmen Medieninhalte ganz anders wahr als Erwachsene. Weil sie keine kleinen Erwachsenen sind.


Ein Junge im Spiderman-Kostüm
Foto: Getty Images

s geht wohl in dem Sechsjährigen vor, der neben seiner Mutter im Spiderman-Kostüm die Straße entlang streift? Schießt er Spinnennetzstränge an die Hauswände, schwingt sich von Fassade zu Fassade? Verjagt die Bösen aus der Stadt, lässt sich feiern für die guten Taten? Kinderwelten sind magische Welten. Kinderwelten sind Medienwelten. Denn Medien strukturieren immer mehr den Alltag von Kindern. Und je älter die Kinder sind, desto mehr strukturieren sie ihren Alltag selbst mit Medienereignissen.

Aber sie nehmen die Inhalte ganz anders wahr als Erwachsene – weil Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Denn welcher Erwachsene würde schon nach dem Kinobesuch glauben, er sei Spiderman mit Superkräften?

Erst ab dem dritten Lebensjahr beginnen Kinder das, was in Büchern oder Filmen passiert, als Medienhandlungen wahrzunehmen. Aber sie können noch lange nicht zwischen medialer Fiktion und der wirklichen Wirklichkeit unterscheiden. Wenn die kleine Katze im Bilderbuch traurig ist, dann werden es Kinder auch. Denn die Katze ist „echt“ und deshalb „echt traurig“.

Einfache Handlungen gefragt

Erst ab dem Grundschulalter würden Kinder erkennen, dass Figuren im Buch, im Fernseher oder auf dem Tablet nicht wirklich im genutzten Medium leben, sagt Maya Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) beim Bayerischen Rundfunk. Die Aufmerksamkeitsspanne für eine Geschichte oder einen Film reiche bei Kindern im Vorschulalter kaum länger als zehn Minuten, sie können Handlungen nicht überblicken. Sie verstehen meist nur einfache chronologische Abläufe. Zeitsprünge oder Rückblenden werden ebenso wenig verarbeitet wie ironische Inhalte.

Die Kinder-Fernsehsender haben sich schon längst voll auf die Grenzen der kindlichen Wahrnehmung eingestellt. Vieles darüber wissen auch Eltern, bewusst oder intuitiv. Wenn es ums Fernsehen geht. Doch oft scheint es, als ob dieses Wissen verschwinden würde, wenn es um Angebote im Web geht. Kinder, die auf dem Tablet in Streaming-Diensten Filme oder Onlinevideos schauen, werden angeregt, immer weiterzuschauen. Nach einem einfachen Klick auf den „Weiter“-Pfeil gibt es eine neue Episode. Und noch eine. Und noch eine …

Während ein Kinderbuch ein Kinderbuch ist und eine Kindersendung eine Kindersendung, bieten digitale Endgeräte wie Smartphone oder Tablet bei babyleichter Bedienung viele verschiedene Medienkanäle zusammenführende Nutzungsmöglichkeiten, die meilenweit über den Horizont der jungen Nutzer hinausgehen. Eltern sind stolz, wenn die Kleinen die Endgeräte mit Wischgesten zum Leben erwecken. Und öffnen damit die (konvergente) Büchse der Pandora. Eine Büchse, die alles kann: YouTube, WhatsApp, Skype, Minecraft, Google usw.

Das Internet ist einfach da

Dabei wissen wir noch gar nicht so genau, als was und wie Kinder das Internet überhaupt wahrnehmen. „Vielleicht ist es tatsächlich ein magischer Ort“, sagt Christine Feil vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München, die ausführlich über die Internetnutzung von Kindern geforscht hat. „Ich glaube allerdings nicht, dass sich Kinder groß darüber Gedanken machen. Das Internet ist für sie in erster Linie einfach da.“

Und zwar mit einem überwältigenden Angebot an Möglichkeiten: „Mit dem Smartphone halten Kinder die ganze Welt in ihrer Hand. Sie spielen gerne lustige Apps, nutzen sie zur Information und sind stolz, möglichst viele davon auf ihrem Gerät zu haben“, schreibt Christine Feil in der Broschüre „Ein Netz für Kinder – Surfen ohne Risiko?“*, einem Elternleitfaden des Bundesministeriums für Familie. Neben dem Smartphone stünden Kindern oft auch noch ein Tablet, Laptop und PC zur Verfügung**. Überall könne man „alles machen und überall ein bisschen anders“.

Christine Feils Fazit: „Das Internet macht Kinder neugierig. Es kann aber auch verwirrend sein.“

Das Netz ist ein verwirrender Ort und nicht in erster Linie gemacht für Kinder – das sollten sich Eltern vor Augen führen, die die handlichen Tablets ins Kinderzimmer einwandern lassen. Damit Kinder aus ihren erweiterten Medienerfahrungen möglichst viel Positives für ihr Leben mitnehmen können, ist es wichtig, deren spezifisch kindlichen Bedürfnisse immer wieder neu im Blick haben.

Diese treten in den sogenannten „Entwicklungsthemen“*** der Kinder auf – zeitliche Trennung, Junge oder Mädchen sein, Besitz haben und teilen können. An diesen Themen können sie sich heutzutage über alle Genregrenzen hinweg geradezu ganzheitlich abarbeiten. Nämlich mithilfe ihrer Helden, von Lillifee bis Bob der Baumeister, die von YouTube-Clips hinüber in Apps wandern, in Bilderbüchern auftauchen und auf Merchandising-Seiten beim Onlineshopping. In Suchmaschinen wird der Name eingetippt, mit Fehlern, trotzdem gibt es in der Bildersuche eine reiche Ernte.

Ein großer Erlebnispark

Die neuen Medien, vereint auf einem Endgerät, müssen Kindern vorkommen wie ein einziger großer Erlebnispark. Solche Erlebnisse können Kindern helfen , „groß zu werden“ – und bieten Eltern die Möglichkeiten, jene Themen aufzuspüren, die Kinder bewegen, über die sie aber auf Nachfrage keine Auskünfte geben können oder wollen.

Nicht alles, was an Mediennutzung für die Großen interessant ist, wird auch von den Kindern als attraktiv wahrgenommen, hat Christine Feil erfahren: Bei Chats stresst die Jüngeren meist die Gleichzeitigkeit von Lesen und Schreiben, beim Skypen mit der Großmutter reißt oft schnell der Geduldsfaden, diese Art der Internet-Telefonie ist kein Kindermedium. Die Beantwortung von Mails dauert bei Kindern nicht selten Tage, da fehle die „Unmittelbarkeit“.

In Suchmaschinen suchen Kinder in der Regel nur mit einem Wort nach Inhalten, Die Kombination von Schlagwörtern erschließe sich ihrer Logik noch nicht. Wenn sie jünger sind, tippen sie oft auch eine ganze Frage in die Suchmaske, was aus Kindersicht ja nur logisch ist. Leider ist die Software von Google für solche Fragestellungen, besonders wenn sie fehlerhaft eingetippt wurden, viel effektiver programmiert als die von den reinen Kinder-Suchmaschinen. Wer bei Blinde Kuh eine ganze Frage eingibt, erntet digitales Unverständnis und bekommt keine Ergebnisse. Die Logik, mit passenden Schlagworten zu suchen, ist keine kindliche. Und: „Sie lesen meist nur die kurzen Teaser der Antworten. Wenn sie diese nicht verstehen, fragen sie ihre Eltern“, sagt Christine Feil. Erstaunlicherweise würden auch viele der Dritt- und Viertklässler den Suchergebnissen skeptisch gegenüberstehen: „Sie sagen: ‚Man darf nicht alles glauben, was im Internet steht.’“

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Diese Skepsis setzt allerdings schnell aus, wenn es um Werbung im Internet geht. Wenn Werbung wie ein normaler Inhalt daherkommt, als sogenanntes „Advertorial“ oder „native Advertising“, wird sie nicht als werblich erkannt. Auch dann nicht, wenn sie einmal anders platziert ist als an den üblichen gelernten Banner-Orten. Viel stärker als Erwachsene nehmen Kinder Werbebotschaften in direkter Ansprache ernst: „Jetzt hier klicken! – Erfahre mehr!“

„Erfahre mehr“ – das ist eine Aufforderung, der Kinder natürlich gerne nachgeben. Wenn Eltern diese Erfahrungsreise nicht hinreichend begleiten, ist es abzusehen, dass Kinder im großen, weiten Netz Erfahrungen machen, die ihrem Alter und ihrem Wahrnehmungsvermögen nicht angepasst sind. Eltern sind deshalb gut beraten, den Überblick über den Medienkonsum der Kleinen zu bewahren. Dazu gehört auch, Nutzungen zu verbieten, die nicht angemessen und in ihren Auswirkungen für Kinder nicht überschaubar sind – Facebook zum Beispiel, wie Christine Feil sagt.

Dazu gehört aber auch, dass wir uns als Erwachsene Zeit nehmen, um zu verstehen, wie Kinder Medienangebote wahrnehmen. Dieses Verstehen ist eine ebenso wichtige wie moderne Erziehungsaufgabe.

Weiterführende Infos:

* Einen Leitfaden für Eltern gibt es hier.

** Mediale Alltagswelten: Laut „Medienzusatzerhebung“ der DJI-Studie „AIDA: II – Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (2014) nutzen 24 % der Ein- bis Achtjährigen das Internet, doch mit 31 % erheblich mehr von ihnen Apps. Von den Fünf- und Sechsjährigen hat bereits etwa jedes vierte Kind Erfahrung mit dem Internet und jedes dritte mit Apps. Etwa 60 % der Eltern von Vorschulkindern geben an, ihr Kind mindestens ein Mal wöchentlich dabei zu begleiten. Sprunghaft steigt die Zahl der Internetnutzer bei den Sieben- und Achtjährigen (43 % bzw. 62 %). Das zeigt die Bedeutung der Lesefähigkeit für die Internetnutzung. Dagegen steigt die Zahl der App-Nutzer weniger stark und liegt mit 44 % genauso hoch wie bei Erwachsenen (Zur Quelle geht es hier).

*** Entwicklungsthemen:

– Bei den Zwei- bis Dreijährigen sind wichtige Entwicklungsthemen Trennung und Heimkehr: ohne die Eltern in der Krippe zu bleiben. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist sehr kurz, sie brauchen Medienerlebnisse mit klarem Anfang und Ende, ohne verschachtelte Handlung.

– Bei den Vier- bis Fünfjährigen spielt die Entwicklung mit den Peers eine stärkere Rolle: Mädchen oder Junge sein, gut und böse. In den Medien können etwas komplexere Geschichten erzählt werden, aber mit einer klaren Storyline. Medien werden zum Begleiter, manchmal auch ein bisschen Elternersatz.

– Bei den Sechs- bis Neunjährigen geht es oft darum, eigene Ziele zu formulieren und durchzuhalten. Der Schuleintritt ist der zentrale Einschnitt in der Entwicklung. Die Peers kommen jetzt noch stärker zum Tragen, auch Wettbewerb, Rivalität, Konkurrenz. Erfolgsstorys sind jetzt ganz wichtig. Die magischen Welten treten etwas hinter den Wissenserwerb zurück.

– Bei den Zehn- bis 14-Jährigen spielen die Themen Identität und Veränderungen des Körpers sowie die Erfahrung Grenzen zu spüren eine besondere Rolle. Medien werden nun als Parallel- und Traumwelten genutzt – z. B. bei Castingshows oder anderen Reality-TV-Formaten. (Quelle: gekürzt aus www.bpb.de).

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