Feature Familie

#elternsindwellenbrecher

Wie digital ist unser Familienleben heute? Was sind die Probleme, wo liegen die Chancen?

Meer Wellen
Quelle: shutterstock

Gestern noch im Mutterbauch, heute schon auf Instagram: Der Säugling liegt auf Mutters Brust, bekommt innerhalb von 25 Minuten 436 Likes:

„So klein und er erhebt schon die Faust zum Sieg. ✊ Wenn er älter ist, werden wir ihm erzählen, dass er während einer globalen Pandemie geboren wurde. Wie er von Masken umgeben auf die Welt kam.“

Früh übt sich, was ein Mediennutzer werden will!
#geburt ist ein beliebter Hashtag auf Instagram, genau wie #schwanger, #schwangerschaft, #babyimbauch, #birth, #glück, #wehen, #hebamme, #kreißsaal. Und natürlich: #familie! Familien-Neuankömmlinge werden heute ab Tag eins ganz selbstverständlich in den sogenannten Sozialen Medien präsentiert. Geburts-Eckdaten wie Name, Geschlecht, Länge und Gewicht publizieren die stolzen Eltern sogleich online. Oma und Opa bekommen ein Filmchen in den Geburts-Chat geschickt.

Von Anfang an ist Familie heute also auch ein digitales Netzwerk. Mit einer Vielzahl von „Endgeräten“ als Knotenpunkten. Marlen Lutz, Hamburger ElternMedienLotsin, macht das bei ihren Elternabenden schon in Kitas von Beginn an klar und fragt die Eltern von Fünf- und Sechsjährigen, wo überall in ihren Wohnungen digitale Geräte betrieben würden. Die spontanen Sammlungen zeigen jedes Mal aufs Neue: Es gibt keine „weißen Flecken“ mehr auf der Familienlandkarte. Die Tonie-Box plärrt im Kinderzimmer, der Fernseher mit Netflix läuft im Wohnzimmer. Die stille, fleißige Alexa wartet im Flur auf ihren Einsatz. Das Netzradio in der Küche spielt „Ultra Relax Radio“, Oldies zum Mitsummen. Im Schulranzen schlummert derweil der GPS-Tracker. Von Smartphones und Tablets ganz zu schweigen.

Weitverbreitet ist sie, die mediale Vollausstattung. Und ebenso weitverbreitet, laut Marlen Lutz, auch die Sorge der Eltern über den Medienkonsum. Bei jedem neuen Elternabend kommen immer wieder dieselben Fragen auf, die Eltern umtreiben:

Was ist zu viel?

Schädigt das mein Kind?

Wie kriegen wir gute Regeln hin?

Wie setzen wir sie um, wie setzen wir sie durch?

Wenn es heute um Familie und den Umgang mit Medien geht (oder auch im Gespräch unter Eltern), steht automatisch der Konsum des Nachwuchses im Fokus. Und das vor allem als „Zeitkonto“-Problem der Kinder und Jugendlichen, die rumdaddeln, anstatt sinnvollen Aktivitäten nachzugehen (Hausaufgaben, das gute Buch lesen, mal im Haushalt helfen). Ein Problem also, das Eltern nur haben, weil die Kinder es ins Haus bringen?

Was definitiv stimmt: Seit unserer ersten scout-Ausgabe im Jahr 2011 haben sich die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen (und damit auch die ihrer Familien) extrem verändert (Grafiken dazu ab Seite 23). Die Digitalisierung ist der entscheidende Treiber dieser Umwälzungen. Kinder gehen immer früher und immer öfter online. Sieben Prozent der 6- bis 13-Jährigen besaßen 2012 ein eigenes Handy (laut KIM-Studie 2012). 2020 waren es 42 Prozent. Claudia Lampert, Medienerziehungs-Forscherin am Hamburger Hans-Bredow-Institut, beschreibt das so: „Wir haben beobachtet, wie sich das Repertoire der Mediennutzung stetig ausweitet, je älter die Kinder werden.“ Es sind die Eltern, die das erste Smartphone kaufen, die Netflix anwerfen, wenn es Zeit zu überbrücken gilt, die erste Nutzerkonten bei Kinderseiten einrichten und später bei WhatsApp. Sage also keiner, die ausufernde Mediennutzung von Kindern sei völlig überraschend ins Haus getreten … Claudia Lampert stellt weiterhin fest: „Ein deutlicher Schub kommt ab der Zeit, wenn die Kinder von der Grundschule auf eine weiterführende Schule wechseln. Spätestens dann wird in der Regel das erste Smartphone fürs Kind angeschafft.“

Mithilfe eines Messengers, meist WhatsApp, wird nun der Familienalltag des Kindes ab Beginn der fünften Klasse organisiert. Für die Schüler*innen geht die Gruppendynamik der Schulgemeinschaft dann nach Schulschluss weiter, im „Klassenchat“. Auch YouTube, Instagram, TikTok und Games drängen aufs Handy, werden zu zentralen Online-Freizeitaktivitäten, Kommunikations-Plattformen und Gesprächsthemen. Die Kinder tragen ihre draußen mit den „Peers“ neu erlernte Mediennutzung in die Familie. Wo Smartphones ja schon vorher wichtig und zentral waren: bei den Eltern, den Vorbildern. Schon Säuglinge nehmen ja, nur wenige Monate alt, die Attraktion des Handys wahr, das so viel Aufmerksamkeit der Eltern bindet.

Die Geräte sind nicht nur Spaßmaschinen, sie avancieren im Familienverbund aber auch immer mehr zu unverzichtbaren „Projektmanagern“. Sie helfen, den Alltag zu strukturieren: Kontakt halten, Absprachen treffen, kommunizieren ganz allgemein. Kind kommt früher von der Schule – WhatsApp. Mutter muss noch etwas länger arbeiten, kann Opa zum Hort, das Kleinkind abholen? – WhatsApp. Vater kauft für Abendessen ein, sind das die richtigen Tortellini hier auf dem Foto? – WhatsApp. Oma wohnt in Bayern – schaut aber täglich auf Skype vorbei. Familie heute – eine Chat-Group. Eltern entdecken im Gegenzug den Vorteil der medialen Kontrolle (Anruf: „Wo bist du gerade?“). Die Kinder sind zwar weg, aber digital da. Es geht auch umgekehrt: Jugendliche können im gleichen Raum sitzen und trotzdem Lichtjahre entfernt sein, weil sie sich per Endgerät der Kontrolle ihrer Eltern entziehen. Dr. Claudia Zerle-Elsäßer, Leiterin der Fachgruppe „Lebenslagen und Lebensführung von Familien“ im Deutschen Jugendinstitut, nennt das Phänomen von vier Menschen mit vier Geräten in einem Raum „alone together“ (nach einem Buch der US-Soziologin Sherry Turkle): „Wir beobachten, dass Vorteile mit Nachteilen erkauft werden, dass die Entwicklung sehr oft zwei Gesichter hat.“ Medien seien zum Beispiel gleichzeitig „Nabelschnur und lange Leine“. Auch für Kinder und Jugendliche eine zweischneidige Sache: „Manche fühlen sich sicherer mit dem Handy in der Tasche oder dem GPS-Sender im Ranzen und erkunden in diesem Gefühl autonom die Welt. Andere werden von ihren Eltern regelrecht gestalkt, können sich nicht richtig ablösen.“

Digitalisierung heißt nicht, dass Familie weniger wichtig würde. Für Kinder und Jugendliche ist sie heute genauso zentral wie die Pflege von Freundschaften. Das zeigen viele Untersuchungen. Laut den bekannten JIM- und KIM-Studien (erhoben vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest – mehr auf www.mpfs.de)sind Beschäftigungen „in und mit der Familie wichtiger denn je“, wie Studien-Koordinator Thomas Rathgeb sagt. Auch die regelmäßig erhobene Shell-Jugendstudie zeige immer wieder aufs Neue: Eine eigene Familie wird unbedingt angestrebt, mehr als andere individuelle Lebensziele. Umfragen zeigen aber auch, dass aus der Sicht des Nachwuchses die Eltern gerne häufiger mal das Handy aus der Hand legen und nicht bei jedem „Pieps“ sofort die Nachrichten checken sollten. Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster behauptet sogar, dass so die Bindung zwischen Eltern und Kleinkind nachhaltig gestört würde. Fest steht: „Durch die Mediennutzung im Familienalltag sind Eltern die primären Ansprechpersonen und Verantwortlichen für die Medienerziehung ihrer Kinder bei deren Zugang zur digitalen Welt.“ So sagt es der „Familienreport 2020“ der Bundesregierung. Doch ob die Eltern das auch können? „Obwohl Eltern inzwischen weitgehend zu den Digital Natives zählen, sind sie damit doch nicht ohne Weiteres auf die Erziehung im digitalen Zeitalter vorbereitet“, heißt es im nächsten Satz.

Womit wir quasi wieder am Anfang des Artikels wären: Eltern sind Ansprechpartner Nummer eins in der Medienerziehung. Aber sie hadern damit. Sie sehen Probleme, machen sich Sorgen. Sie sollen die ersten Wellenbrecher sein. Aber die Wellen sind so hoch!

Wie lässt sich dieser Zwiespalt überwinden? Wie kann Medienerziehung gelingen? Der erste, oft gehörte Tipp ist: Offen sollen Eltern sein, zugewandt, nachfragend. Inhaltlich interessiert am Medienkonsum des Nachwuchses. Sie sollten klare Regeln (gemeinsam) aufstellen. Und: Wenn mal was nicht klappt, wenn’s Probleme gegeben hat, sollten sie als Ansprechpartner zur Verfügung stehen und nicht sofort mit Sanktionen drohen. Besonders wichtig, sagt Claudia Lampert, sei es, „die eigene Vorbildrolle zu erkennen. Und dann auch wahrzunehmen!“ Das klinge alles sehr schön, räumt sie ein – bloß bei manchen Eltern, da „geht zu Recht das Rollo runter, wenn sie sagen: Wie sollen wir das denn auch noch schaffen!?“ Wobei die Elterntypen, die den Medienkonsum der Kinder einfach „laufen lassen“ (aufgrund fehlender Ressourcen oder wegen Desinteresses), in allen Bevölkerungsmilieus anzutreffen seien. Umso wichtiger, dass Schule und Kita mit den Eltern an einem Strang zögen: „Es müssen alle im Dialog bleiben, zum Besten der Kinder, die sonst hinten runterfallen könnten.“

Das können und sollten Eltern tun. Aber reicht es auch? In den vergangenen zehn Jahren, seit es das scout-Magazin gibt, ist die Medienerziehung für alle – quer durch die „Milieus“ – erheblich schwieriger geworden. Die mobile Nutzung des Internets durch Smart-
phones ist explodiert, es gibt dadurch neue, sogenannte „Interaktionsrisiken“ wie „Cybergrooming“. Der kommerzielle Druck durch TV-Werbung ebenso wie durch Influencer zielt immer mehr auf Kinder. Extrem populäre Videoplattformen wie TikTok halten sich derweil an kaum eine deutsche Jugendschutzregel.

Der Druck auf Eltern, sich (auch noch) um Medienerziehung kümmern zu müssen, ist deutlich gestiegen. Gleichzeitig sind entsprechende Hilfen und Beratungsangebote nicht ausreichend entstanden. Ein Beispiel: Die Hamburger ElternMedienLotsen erhalten seit vier Jahren keine stabile Finanzierung mehr. Es gibt kaum Vernetzung von Angeboten, keine zentrale Anlaufstelle für Fragen oder Probleme der Medienerziehung. Sie findet sich auch noch immer nicht regelmäßig als Bestandteil von Elternschulen.

Das alles heißt wohl: Eltern sind weiterhin eher allein mit ihren Sorgen und Problemen. Unterstützung bekommen könnten sie in Kitas und Schulen. Aber genau dort ist Medienerziehung und Medienkompetenzvermittlung leider nicht verlässlich verankert. Es gibt zwar Projekte und Modelle. Aber diese sind nach wie vor die Ausnahme und nicht die Regel. Da wäre es wichtig, dass es in Politik und Gesellschaft nicht nur einen „Digitalisierungspakt“ gibt – sondern endlich auch einen Pakt für Medienerziehung!

Bildquellen: shutterstock, Stocksy

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