Im Gespräch mit Cyberkriminologe Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger
Medienbildung ist digitale Kriminalprävention
Die Schule ist der eine Ort, an dem Kinder und Jugendliche aus allen sozialen und familiären Hintergründen versammelt sind. Deshalb müssten genau hier verlässliche Medienkompetenz-Standards für alle sichergestellt sein, findet der Brandenburger Cyberkriminologe Professor Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger. Er fordert verbindliche Medienkompetenzvermittlung ab der 1. Klasse: Solches langfristiges Investieren in Medienkompetenz könne die Risiken minimieren, dass Kinder zu Opfern oder mittelbar auch selbst zu Tätern werden, sagt der Kriminologe.
Können Sie kurz erklären, was ein „Cyberkriminologe“ macht? Inwiefern stehen Kinder und Jugendliche dabei in Ihrem Fokus?
Die Cyberkriminologie beschäftigt sich aus einer wissenschaftlichen Perspektive heraus mit Formen digitaler Kriminalität, ihren Ursachen und möglichen gesellschaftlichen Reaktionsmechanismen. Die Themen hier können vielseitig sein und reichen von Aspekten wie der Relevanz Künstlicher Intelligenz bei der Kriminalitätsbegehung und -bekämpfung bis zu den Risiken, denen gerade Minderjährige im digitalen Raum ausgesetzt sind.
Als Cyberkriminologe beschäftige ich mich beispielsweise auch in einem Schwerpunkt damit, dass wir bei einigen digitalen Deliktsformen viele Minderjährige sowohl als Opfer aber auch als Täter haben. Ich würde gerne dazu beitragen, dass sich das ändert, weil es aus meiner Sicht bei vielen Fällen auch vermeidbar wäre.
Was halten sie von der aktuellen Verbotsdiskussion, also Schulverbote für Handys und den Zugang zu Social Media für Jugendliche erst ab 14 oder gar 18 Jahren?
Persönlich denke ich, dass man Verbote im digitalen Kontext durchaus als Gesellschaft diskutieren können muss. Sie sollten aber nicht dazu führen, dass deswegen die Medienbildung vernachlässigt wird. Ich habe manchmal den Eindruck, dass in der Diskussion zu kurz gedacht wird, nach dem Motto: Jetzt haben wir es verboten, dann kann dem Kind ja nichts passieren und ich muss mich nicht damit beschäftigen. Anders formuliert: Wo es keine Handys gibt, braucht es auch keine Medienbildung.
Das wäre ein fataler Irrtum, und das macht mir tatsächlich auch Sorgen. Heute machen teilweise schon sechs- oder siebenjährige Kinder ihre Erfahrungen mit dem Internet, und Verbote werden das nicht grundsätzlich ändern: Was ist zum Beispiel, wenn ein Kind, dass kein Smartphone haben darf, ein älteres Kind besucht, und die beiden dann auf dessen Smartphone oder Spielekonsole ungeschützt online unterwegs sind? Wenn wir nur mit Verboten auf Gefahren im Netz reagieren, machen wir es uns zu einfach. Das wäre die Fortschreibung des „Es wird schon gut gehen“, mit dem sich meiner Einschätzung nach schon viele Eltern in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren beruhigt haben, weil ihnen das Thema selbst viel zu komplex vorkam. Damit haben wir als Erwachsene aber nur den Kindern die Verantwortung für den sicheren Medienkonsum zugeschoben.
Man hat bei der Diskussion manchmal den Eindruck, die sogenannten „Interaktionsrisiken“ gäbe es erst seit gestern …
Das stört mich auch! Der digitale Raum war viel zu lange viel zu offen für Kinder und Jugendliche. Hass im Netz zum Beispiel ist ein altes Delikt, das schon immer auch in Teamchats von Plattformen grassierte, die heute kaum noch einer kennt. Schon vor 15 Jahren wurden Jugendliche im Netz mit Extremismus und Sexualdelikten konfrontiert. Erkundigen Sie sich mal bei heute Anfang 30-Jährigen, da können viele von Erfahrungen mit creepy Typen erzählen. In einem öffentlichen Lagebild zu Cybercrime hieß es schon vor fast zehn Jahren, dass für Minderjährige die Konfrontation mit digitalen Sexualdelikten normal sei und sie diese daher kaum als strafbar ansehen würden. Da fragt man sich schon wo denn damals die Schutzmaßnahmen waren, wo die Medienpädagogik in den Schulen, wo die Kriminalpolitik?
Professor Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger setzt sich wissenschaftlich mit digitalen Straftaten und Interaktionsrisiken in sozialen Medien auseinander, eines seiner Themen ist „Kriminalprävention im Netz“.
Mehr auf seiner Homepage: https://hpolbb.de/tgr
Was können wir also tun, wenn wir Verbote einmal in Gedanken zur Seite schieben?
Da gegenwärtig die gesellschaftlichen Schutzmechanismen noch weitestgehend ineffektiv sind, ist die einzige echte Schutzmöglichkeit die verbindliche Vermittlung von Medienkompetenz in der Schule. Kinder bekommen teilweise ab der 1. Klasse Smartphones – also muss auch die verpflichtende Vermittlung von Medienkompetenz zu diesem Zeitpunkt starten. Das ist nicht nur im Sinne der Eltern und Kinder, sondern auch im Interesse der Sicherheitsbehörden: Gut vorbereitete Kinder werden seltener zu Opfern und auch seltener zu Tatverdächtigen. Medienbildung ist also digitale Kriminalprävention.
Wie sind die Reaktionen auf eine solche Forderung?
Die Reaktionen sind ganz überwiegend positiv. Oft werde ich auch darauf hingewiesen, man habe das Thema ja schon in den Rahmenplänen. Das heißt aber nach meiner Erfahrung nicht, dass dort regelmäßig auch das notwendige Wissen strukturiert vermittelt wird oder überhaupt etwas passiert. Wir brauchen die Medienbildung nicht alle zwei Jahre als Thema bei einem Elternabend, sondern flächendeckend an jeder Schule. Sie muss regelmäßig alle Schüler*innen erreichen.
Wie sollte das umgesetzt werden?
Ich habe keine ausgearbeiteten Konzepte in der Schublade, das ist ja auch nicht meine Aufgabe. Aber es muss viel intensiver vor allem politisch diskutiert werden: Brauchen wir ein eigenes Fach, oder geht das integral als „Querschnittsaufgabe“? Es gibt unendlich viel Material und viele Initiativen und Plattformen, die sich dem Thema angenommen haben und auf die man zurückgreifen könnte. Das sehe ich auch als einen Teil des Problems: Schulen, aber auch Eltern, brauchen mehr Klarheit, welches Material gut aufgearbeitet und verlässlich für den Unterricht geeignet ist. Das sollte unbedingt auch zentralisiert umgesetzt werden.
Welche Rolle spielen Sie dabei, also die Polizei?
Ich wünsche mir für die Zukunft, dass die Polizei oft und regelmäßig in Schulen zu Gast ist, Veranstaltungen gemeinsam mit den Medienkompetenz-Anbietern und den Schulen durchführt. Am besten im Rahmen einer Strategie für eine verbindliche Medienbildung, die ich schon angesprochen habe. Die Polizei sehe ich als Partner der Medienkompetenz-Vermittler - sie kann in diesem Zusammenhang vor allem nachvollziehbar vermitteln, was gesetzlich verboten ist und welche Risiken drohen: Zurzeit treten zum Beispiel bei jedem zweiten registrierten polizeilichen Fall von sogenannten „kinderpornographischen Inhalten“ Minderjährige selbst als Tatverdächtige in Erscheinung. Die Gesetzeslage bringt es mit sich, dass sich auch diese Minderjährigen zum Beispiel im Rahmen des Austauschs von Nacktbildern – also dem Sexting – strafbar machen können, je nach Konstellation wegen „kinder- oder jugendpornographischen Inhalten“. Solche Rechtskonstellationen können Polizisten den Schüler*innen sicherlich sinnvoll vermitteln. Wie gesagt: Prävention heißt aus meiner Sicht auch sicherzustellen, dass die Kinder und Jugendlichen weder zu Opfern noch zu Tätern werden.