„Pro-Ana“-Seiten im Internet

Kein Hunger auf Leben

Viele Internetinhalte, besonders in Blogs, Foren und Sozialen Netzwerken, verherrlichen und verharmlosen Essstörungen wie Anorexie – und präsentieren sie stattdessen als erstrebenswerten Lifestyle.


Screenshot einer Nachricht mit dem Text: Liebe Ana,
Foto: G+J Corporate Editors GmbH

Essstörungen wie Anorexie und Bulimie zählen zu den häufigsten chronischen Krankheiten bei Jugendlichen. Die Zahl der Betroffenen wächst stetig, sie werden immer jünger. Es sind vor allem Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren, die daran leiden. Mit ihrem krankhaften Essverhalten schaden sie nicht nur ihrer Gesundheit, sondern spielen mit ihrem Leben: Rund zehn bis 15 Prozent der Betroffenen sterben.

scout sprach dazu mit Katja Rauchfuß, seit 2005 Hotline-Mitarbeiterin bei jugendschutz.net im Bereich „Sexueller Missbrauch, Pornografie und Selbstgefährdung“ und Expertin für sogenannte „Selbstgefährdungsangebote“ im Internet.

Erlaube mir, mich vorzustellen. Mein Name, oder wie ich von sogenannten ‚Ärzten‘ genannt werde, ist Anorexie. Mein vollständiger Name ist Anorexia nervosa, aber du kannst mich Ana nennen. Ich hoffe, wir werden gute Freunde.

Aus: „Anas Brief“, dem zentralen Pro-Ana-Manifest

scout: Was sind Pro-Ana- und Pro-Mia-Seiten?
Rauchfuß: Pro-Ana-/Pro-Mia-Angebote tragen bewusst verharmlosend ihre freundlich klingenden Namen. Sie werden ja zumeist von Essgestörten betrieben, die keine Heilung oder Therapie wollen. Stattdessen nutzen sie ihre Webangebote zur Propagierung von Magersucht (Ana kommt von lateinisch Anorexia nervosa) und Bulimie (Mia bezieht sich auf Bulimia nervosa) als erstrebenswerten Lifestyle. Die Palette der Angebote reicht von hilfreichen bis hin zu jugendgefährdenden Angeboten. Es gibt durchaus empfehlenswerte Beratungs- und Hilfsangebote, die wie eine Selbsthilfegruppe funktionieren. Sie zeichnen sich vor allem durch ihre Niedrigschwelligkeit aus, denn sie bieten einen freien Zugang. Die Angebote sind daher nicht pauschal als harmlos oder gefährdend einzuschätzen, es ist immer ein differenzierter Blick auf das tatsächliche angebotsspezifische Gefährdungspotenzial und die verbreiteten Inhalte nötig. Pro-Ana-/Pro-Mia-Angebote können aber auf jeden Fall bestehende essgestörte Verhaltensweisen verstärken.

scout: Wie alt sind die Nutzer?
Rauchfuß: Eine von uns erhobene Statistik von Altersangaben auf recherchierten Pro-Ana/Pro-Mia-Webseiten belegt: Die Betreiber und Nutzer der Angebote sind zum größten Teil minderjährig.

scout: Warum sind solche Seiten im Internet für Jugendliche problematisch?
Rauchfuß: Das Internet ist jugendaffin und anonym. Kommunikationsmittel wie Blogs, Foren, Chats, soziale Netzwerke und Videoplattformen bieten schnelle Kontaktmöglichkeiten zu gleichgesinnten Jugendlichen, die über einschlägige Suchbegriffe sehr einfach zu finden sind. Jugendliche in der schwierigen Phase der Pubertät hadern häufig mit ihrem Selbst- und Körperbild. Essstörungen entstehen zumeist in der Pubertät – daher spielt das Thema im Internet eine große Rolle. Die Gründe für Essstörungen sind vielfältig und können individuell sehr verschieden sein, liegen aber nie in der reinen Nutzung von Pro-Ana-/Pro-Mia-Angeboten. Allerdings fühlen sich die Betroffenen durch Pro-Ana-/Pro-Mia-Angebote verstanden und ermutigt, weiter an der Essstörung festzuhalten.

scout: Wirkt sich also vor allem die Gruppendynamik negativ aus?
Rauchfuß: Es entsteht ein lebensgefährliches „Wir-Gefühl“, das gerade psychisch Kranke von Therapien abhält, zur Geheimhaltung animiert und immer weiter in den Strudel der Krankheit treibt. Kurz gesagt: Die Angebote sind für betroffene Jugendliche sehr gefährlich. Jugendliche sollten daher keinen Zugang zu Angeboten haben, die zwanghaft zum weiteren Abnehmen auffordern und die Krankheit als Lebensideal darstellen.

scout: Worüber chatten die Nutzer von Pro-Ana-/Pro-Mia-Seiten?
Rauchfuß: Sie stimulieren sich gegenseitig zur weiteren Gewichtsreduktion, reden über extreme Diäten, Abführmittel, sie geben sich Tipps zum weiteren Hungern oder Erbrechen – und wie die Essstörung möglichst lange geheim gehalten werden kann. Das sind zentrale Inhalte der Kommunikation.

scout: Woran erkenne ich gefährdende Angebote?
Rauchfuß: Ein Angebot ist nach unserer Einschätzung als gefährdend einzustufen, wenn es essgestörtes Verhalten einseitig verherrlicht, die Krankheit leugnet, ihre Folgen verharmlost sowie konkrete Anleitungen zu essgestörtem Verhalten beinhaltet. Typische Inhalte, die auf eine Gefährdung hindeuten, sind zum Beispiel „Anas Brief“ und „Mias Brief“, in denen die Essstörung als einzig wahre Freundin personifiziert und angesprochen wird. Es gibt Gebote, Gesetze, Glaubensbekenntnisse und richtige Psalme. „Thinspirations“ nennen sich Fotos von extrem dünnen Mädchen und Frauen, die als Idealbilder dienen. Weiterhin sind Motivationsverträge und -sprüche sowie Ess- und Gewichtstagebücher problematisch und auch Wettbewerbe, bei denen es darum geht, wer am schnellsten abnimmt. Auch die Suche nach Twins, nach Web-Freundinnen, mit denen man gemeinsam abnimmt, sind ein Warnzeichen. Die Kommunikation der Twins läuft dann über WhatsApp oder E-Mail und ist somit für Außenstehende nicht mehr wahrnehmbar.

scout: Welche Rolle hat das Web 2.0 mit Facebook, WhatsApp und Instagram übernommen? Gibt es überhaupt Kontroll- und Einflussmöglichkeiten?
Rauchfuß: In großen Communitys und auf Videoplattformen sind die User den Nutzungsbedingungen der jeweiligen Plattform unterworfen, die zumeist das Einstellen selbstgefährdender Inhalte untersagen. Da die Plattformbetreiber jedoch selten Inhalte vorab prüfen, bieten die Angebote auch jenen Usern, die ihr selbstgefährdendes Verhalten glorifizieren und auf der Suche nach Austausch und Bestärkung sind, ein Podium. Auch wenn die Pro-Selbstgefährdungsangebote innerhalb des Web 2.0 in der Regel nicht die gleiche destruktive Qualität besitzen, wie eigens zu diesem Zweck erstellte Websites, Blogs oder Foren, geht von ihnen aber doch speziell für Kinder und Jugendliche ein erhöhtes Risiko aus. Die Kommunikations- und Videoplattformen des Web 2.0 gehören zu ihren bevorzugten Angeboten.

scout: Viele Medienberichte über die Foren stammen aus den Jahren 2006–2008. Hat die Aktivität seitdem weiter zugenommen?
Rauchfuß: Wie viele Pro-Ana-/Pro-Mia-Angebote und -Nutzer es tatsächlich gibt, ist schwer zu sagen, da eine hohe Fluktuation besteht. jugendschutz.net kann nur Aussagen zu den gemeldeten und selbst recherchierten Angeboten treffen. Die Zahl der bei uns gemeldeten und recherchierten Angebote oder auch Inhalte in den sozialen Netzwerken stieg von 2006 bis 2011 kontinuierlich an. Seitdem ist die Tendenz eher etwas rückläufig.

scout: Gibt es dazu neue Ergebnisse aus der Forschung?
Rauchfuß: Untersuchungen zeigen, dass die Nutzung der Pro-Ana-/Pro-Mia-Websites nicht ohne Risiko ist. Sogar gesunde Frauen wiesen nach Sichtung der Angebote ein erheblich negativeres Selbstbild auf. Vergleichbare Effekte ergaben sich auch bei heranwachsenden Mädchen. Übertragen auf junge Betroffene hieße das: Tauschen sich Pro-Ana-/Pro-Mia-Anhänger unkontrolliert und ohne entsprechende Beratung aus, kann dies ihr negatives Selbstbild und die bereits verzerrte Körperwahrnehmung verstärken. Ein lebensgefährlicher Teufelskreis entsteht, der die Betroffenen immer weiter in den Strudel der Krankheit treibt, indem er zur Geheimhaltung animiert und weiterhin zu krankhaftem Essverhalten ermutigt. Als Teil einer solchen Gruppe fällt es schwer, die Krankheit als solche zu erkennen, die Gemeinschaft aufzugeben und Heilung anzustreben.

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