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Wann ist ein „gesundes“ Maß an Mediennutzung überschritten?

Es gibt viele Anzeichen, wenn Medieninhalte und Medienzeiten Kinder überfordern. Colette See von Sucht.Hamburg sagt, worauf Eltern achten und wann sie handeln müssen.

Foto Colette See

Colette See ist Referentin für Suchtprävention und digitale Medien bei Sucht.Hamburg – Fachstelle für Suchtfragen. Dort leitet sie unter anderem das Projekt „Time to Balance“ und unterstützt Eltern bei der Medienerziehung in der Familie.

Wie viel Medienzeit ist für mein Kind in Ordnung? Diese Frage beschäftigt viele Eltern. Was ist Ihrer Meinung nach für Kinder ein „gesundes“, also dem Alter angemessenes Maß an Mediennutzungszeit?

Das ist tatsächlich die Frage, die alle Eltern interessiert. Es wäre auch wünschenswert, dass es darauf eine für jede Familie geltende perfekte Antwort gibt. Aus meiner Sicht muss das jedoch jede Familie im Einzelfall für sich selbst entscheiden. Aber klar, es gibt für verschiedene Alterspannen medienpädagogische Empfehlungen, die eine gute Orientierung bieten.

Demnach sollten Kinder bis drei Jahren keine bzw. realistisch ausgedrückt möglichst wenig und nicht regelmäßig Medien nutzen. Die Auswahl der Medieninhalte und die direkte Begleitung durch die Eltern sind natürlich auch ganz wichtig.

Für Drei- bis Sechsjährige ist ein zeitlicher Rahmen von 20 bis 30 Minuten am Tag hilfreich. Da kann auch eine Regelmäßigkeit gegeben sein, sofern das keine Probleme macht.

Bei sechs bis neun Jahren liegt das empfohlene tägliche Limit an Medienzeit bei einer Stunde, zwischen neun und zwölf Jahre bei circa 90 Minuten.

Sich als Eltern an den Richtwerten zur Bildschirmzeit zu orientieren, finde ich im Kita-Alter wichtig. Ab dem Schuleintritt rate ich den Eltern eher, sich nicht zu starr daran festzuhalten, sondern vielmehr auf die Inhalte zu achten. Wenn man beispielsweise gemeinsam im Fernsehen eine Sportveranstaltung schaut, die dann auch mal länger dauert, dann ist das anders zu bewerten, als wenn ein Kind Computerspiele spielt, die nicht altersgerecht sind.

Wie erkennen Eltern, wann ein „gesundes“ Maß überschritten ist?

Regelmäßiges streiten über Mediennutzung und Medienzeit ist ein wichtiger Indikator. Und zwar wenn man so streitet, wie man es von seinem Kind nicht gewohnt ist. Wenn das Kind wirklich vehementer reagiert, es ausfallender wird, auch aggressiv, mal Türen knallt und sich nicht so schnell beruhigt, wie wenn es sonst mal ein „nein“ hört.

Weitere Warnsignale sind Lügen und Betrugsversuche, Bildschirmzeiten weniger erscheinen zulassen, indem bestimmte zeitliche Filter gelöscht oder umgangen werden.

Das sind aus meiner Sicht ganz wichtige Signale, die Eltern ernst nehmen sollten. Im späteren Alter kann dann noch hinzukommen, dass sich das Kind immer mehr zurückzieht, immer weniger Lust hat auf Familienaktivitäten, Freunde zu treffen oder Hausaufgaben zu machen. Und der Alltag mit Schule und Verpflichtungen nur funktioniert, wenn man drumherum Medienzeiten als Belohnungen strickt.

Kinder zeigen ja auch schon oft während der Mediennutzung Überforderung, werden hibbelig, kauen an den Fingernägeln oder hüpfen auf dem Sofa.

Ja, es ist oft ein Irrglaube von Eltern, dass digitale Medien Kinder entspannen. Auch wenn die Kinder für den Moment ruhig sind, verarbeiten sie das Erlebte oft später. Das hat aus meiner Sicht häufig damit zu tun, dass in den seltensten Fällen altersgerechte Inhalte genutzt werden. Es sind oft Medieninhalte, die sich Kinder ausgesucht haben, weil sie das von anderen Kindern in der Kita oder auf dem Schulhof gehört, bei Freunden gespielt oder in der Werbung gesehen haben. Das sind teilweise nicht die Sendungen, Spiele oder Apps, die wir uns aus medienpädagogischer Sicht wünschen.

Spielt denn auch der Zeitpunkt der Mediennutzug eine Rolle?

Definitiv! Ein Klassiker ist: „Vor den Hausaufgaben kannst du noch was gucken, aber dann musst du sie auch wirklich machen.“ Was folgt ist Streit. Denn das Kind schafft es nicht, sich zu konzentrieren. Gleichzeitig sind die Eltern genervt, weil die Absprache nicht eingehalten wird, wo sich das Kind im Vorfeld doch vermeintlich entspannen konnte.

Da muss man genau gucken: Manche Kinder können das und bei manchen Kindern ist aber ganz deutlich erkennbar, dass der Zeitpunkt der Mediennutzung ein wichtiger Faktor ist. Dann müssen Eltern überlegen, wann sie Mediennutzungszeiten planen. Auch vorm Schlafengehen ist es nicht immer sinnvoll, weil Kinder eher „hochgefahren“ werden und schlechter einschlafen können.

Viele Eltern von Kindern beginnend der Pubertät machen sich Sorgen, dass ihre Kinder mediensüchtig sind. Was sind Anzeichen für Mediensucht?

Seit zwei Jahren ist die Computerspielabhängigkeit als eigenständige Sucht-Erkrankung anerkannt.

Bei Kindern und Jugendlichen wird allerdings nur sehr ungern die Diagnose einer Abhängigkeit gestellt. Da sie noch in der Entwicklung und am Heranwachsen sind, sollte man auch wirklich vorsichtig mit Sucht-Diagnosen umgehen - wir sprechen da lieber von problematischer oder exzessiver Mediennutzung. Und trotzdem gibt es Merkmale, die ganz stark an eine Sucht erinnern und dazu führen, dass Therapeuten auch schon Jugendlichen eine stationäre Behandlung empfehlen.

Zu den kritischen Merkmalen zählen hohe Bildschirmzeiten, die sich auch sukzessive erhöhen, also ich brauche immer mehr von einem Computerspiel, ich muss immer länger davorsitzen, um eine Bedürfnisbefriedigung zu haben. Was dann dazu führt, dass ganz viel Sachen, wie Schule oder Freunde vernachlässigt werden.

Colette See

Es gibt auch „Entzugserscheinungen“ psychischer Natur. Wenn die Jugendlichen nicht spielen können, versuchen sie alles zu tun, um zu spielen. Das heißt sie umgehen Verpflichtungen, versuchen ihre Eltern zu überzeugen, erst mit netten Worten, aber in vielen Fällen gibt es auch Gewalt. Hinzukommen körperliche Auswirkungen wie schlechte Ernährung, Gewichtszunahme und mangelnde Hygiene.

Merkt denn der Jugendliche nicht, wie sehr sich sein Verhalten und sein Leben verändert?

Doch, meist sieht er auch das Problem und hat versucht, seine Spielzeiten zu reduzieren. Es ist ihm wiederholt nicht gelungen, er spürt den Kontrollverlust und kann die Computerspielnutzung nicht mehr steuern. Und trotzdem kann der junge Mensch sein Verhalten nicht ändern und merkt, dass er da in einer Spirale gefangen ist, aus der er so alleine jetzt nicht rauskommt. Mediennutzung ist für ihn dann keine Freizeitbeschäftigung ergänzend neben anderen Dingen, sondern bestimmt sein Leben.

Wann sollten Eltern handeln?

Mein Tipp an Eltern ist, nicht zu warten bis ein, zwei Anzeichen vorliegen, sondern schon dann zu handeln, wenn sie das Gefühl haben, hier stimmt was nicht und sie kommen da nicht alleine raus. Wenn es nicht nur eine klassische Abgrenzung ihres Kindes ist, sondern sie Stück für Stück die Bindung und den Kontakt zum Kind verlieren. Zudem erhöhen sich die Spielzeiten ihres Kindes immer weiter. Und das alles über einen längeren Zeitraum, also nicht über ein, zwei Wochen, sondern über ein paar Monate. Dann ist es aus meiner Sicht wichtig, sich externe, professionelle Hilfe zu holen, bevor sich ein Verhalten verfestigt. Lieber nach dem ersten Termin wieder nach Hause geschickt werden, weil man kein "schwerer Fall“ ist.

Was raten Sie Eltern, dass es gar nicht so weit kommt?

„Medienerziehung von Anfang an“ ist aus meiner Sicht das richtige Vorgehen. Sich von Anfang an als Familie Gedanken zu machen, welche Rolle sollen digitale Medien bei uns spielen. Dann Regeln festlegen. Dafür am besten gemeinsam mit dem Kind bestimmte Empfehlungen ansehen, über Inhalte sprechen und darüber diskutieren.

Dann lassen sich dann auch später, wenn Kinder größer werden, bestimmte Sachen besser durchsetzen.

Streit gehört aber auch dazu. Das Thema Medien und Mediennutzung verläuft in den wenigsten Fällen unproblematisch. Sondern wird aus meiner Sicht von den Kindern auch genutzt, um sich von den Eltern abzugrenzen. Das ist ein wichtiger Entwicklungsschritt. Man muss aber als Eltern seine Rolle behalten und eine klare Haltung zeigen. Da lohnt es sich unter Umständen auch mal ein halbes Jahr zu sagen, „dass Spiel spielst du erst, wenn ich das Gefühl habe, dass das für dich passt und du dich an bestimmte Vereinbarungen hältst.“ Da würde ich als Eltern auch eher den Gegenwind in Kauf nehmen, als das 10-jährige Kind doch Fortnite spielen zu lassen, nur weil das angeblich alle in der Klasse spielen.

Welche Möglichkeiten gibt es für besorgte Eltern, sich zum Thema Mediensucht oder exzessive Mediennutzung beraten zu lassen?

Wir haben in Hamburg ein gut aufgestelltes Hilfesystem. In jedem Bezirk gibt es Erziehungsberatungsstelle, bei denen man auch relativ zeitnah, je nach „Druck“, einen Termin bekommt. Für schwierige Fälle haben wir die Jugendsuchberatung. Als Sucht.Hamburg bieten wir das Angebot „Time to Balance“ an, das sich explizit an Eltern und Erwachsene richtet. Eltern können sich über das Hilfesystem erstmal einen Überblick verschaffen: Was gibt in Hamburg und was sind die Voraussetzungen dafür, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Und dann haben sie konkret auch die Möglichkeit, mit uns zu chatten, uns anzurufen oder zu mailen.

Oft ist es so, dass Eltern erstmal überhaupt ihre Situation beschreiben müssen und sich ganz unsicher sind: Ist das eigentlich schon ein Problem? Brauche ich Hilfe? Und wenn ja, an wen kann ich mich wenden? „Time to Balance“ fängt im ersten Schritt all diese Fragen auf. Die Erfahrung ist auch, dass in den meisten Fällen schon zwei, drei Tipps und vielleicht auch nochmal eine Empfehlung für Flyer und Broschüren helfen, ein bisschen Ruhe zu schaffen.

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